Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
halben Stunde zurückgekommen.«
»Du musst ja völlig erschöpft sein, was ist denn passiert?«
»Als ich in der Klinik ankam, war er weg. Abgehauen. Ich habe eine Weile gewartet, weil ich hoffte, sie würden ihn finden.«
»Abgehauen? Wie war denn das möglich?«
»Er schlug seine Pflegerin ohnmächtig, fesselte sie und machte sich davon. Er ist offenbar ins Gebirge gerannt.«
»Das ist ja gespenstisch! Ist der Junge gefährlich, Alex?«
»Es könnte sein«, gab ich widerstrebend zu, »die Oberschwester deutete so was an, allerdings sagte sie nichts Genaueres - nur, dass seine Pflegerin immer bei unberechenbaren Patienten eingesetzt wird. Am Telefon hat er mir von Fleischfressern und dampfenden Messern erzählt.«
Robin schüttelte sich. »Hoffentlich finden sie ihn bald.«
»Da bin ich sicher. Sehr weit kann er nicht gekommen sein.«
Robin legte ihre Kleider zurecht. »Ich wollte gerade Frühstück machen«, sagte sie, »aber wenn du zu kaputt bist, erledige ich erst noch ein paar Sachen in Venice.«
»Ich habe keinen Hunger, aber ich leiste dir Gesellschaft.«
»Willst du das wirklich? Du siehst furchtbar müde aus!« »Bin ich auch. Aber ich schlafe erst, wenn du wegfährst.«
Robin zog Jeans, ein gestreiftes Hemd, einen Pullover mit rundem Ausschnitt und Sandalen an, ihre übliche Arbeitskleidung, in der sie jedoch beinahe so elegant aussah wie in Abendrobe. Ihr langes kupferfarbenes Haar war natürlich gewellt. Sie trug es offen, und kleine, glänzende Locken fielen ihr auf die zarten Schultern. Während der Arbeit steckte sie es hoch und verbarg es unter einem Tuch. Wenn sie sich bewegte, tat sie es mit so viel Anmut, dass ich immer wieder fasziniert war. Wenn man sie so sah, wäre man nie auf den Gedanken gekommen, dass sie perfekt mit einer Kreissäge umgehen konnte, aber genau das war es, was mich von Anfang an so für sie eingenommen hatte, Kraft und handwerkliche Geschicklichkeit und dazu ein reizvolles weibliches Äußeres, ihre Fähigkeit, mithilfe von gefährlichen Instrumenten schöne Dinge hervorzubringen. Selbst wenn sie über und über mit Sägemehl bedeckt war, sah sie noch hübsch aus.
Inzwischen hatte sie sich ein blumiges Parfüm ins Haar gesprüht, kam auf mich zu und streichelte mein Kinn. »Au, das tut weh, du musst dich rasieren!«
Arm in Arm gingen wir in die Küche hinüber.
»Setz dich«, befahl sie und begann, das Frühstück zuzubereiten. Hefewecken, Marmelade und koffeinfreien Kaffee. Die Sonne schien und wärmte den Raum, und bald roch es angenehm nach Kaffee. Robin deckte zwei Plätze auf dem Eschentisch, den sie im Winter des Vorjahrs gezimmert hatte, ich trug das Tablett ins Esszimmer.
Wir saßen uns gegenüber und schauten hinaus. Auf der Terrasse unten hüpfte pickend eine Taubenfamilie umher, man hörte das Gluckern im Fischteich nur ganz leise. Robin hatte Make-up aufgelegt, nur ein wenig mahagonifarbenen Lidschatten, denn ihre olivfarbene Haut war noch gebräunt von der Sommersonne. Sie strich ein wenig Marmelade auf einen Wecken und reichte ihn mir.
»Danke, nein, ich trinke nur ein bisschen Kaffee.«
Sie aß langsam und mit sichtlichem Vergnügen, sah munter und rosig aus und sprühte vor Energie.
»Du siehst aus, als ob du gerne losmöchtest.«
»O ja«, sagte sie mitten im Kauen, »heute habe ich wirklich viel zu tun. Ich muss die Brücke auf Paco Valdez’ Konzertgitarre befestigen, eine zwölfsaitige Laute fertig machen und eine Mandoline für den Lack vorbereiten. Danach rieche ich sicher nach Firnis.«
»Wunderbar, ich mag duftende Frauen.«
Robin war schon immer fleißig und selbstsicher gewesen, aber seit sie aus Tokio zurückgekommen war, war sie wie ein Dynamo. Ein japanischer Musikkonzern hatte ihr eine Stelle als Chefdesignerin angeboten, was sie jedoch nach längerem Überlegen abgelehnt hatte. Individuelles Handwerk lag ihr einfach mehr als Massenproduktion. Seit dieser Entscheidung war ihre Begeisterung für ihren Beruf noch größer geworden, und ein Zwölfstundentag im Atelier in Venice beinahe die Regel.
»Bist du jetzt vielleicht hungrig?«, fragte Robin und schob mir ein weiteres halbes Weckchen mit Marmelade hin.
Ich nahm es und kaute geistesabwesend. Es schmeckte wie angewärmte Modelliermasse. Ich legte es auf den Teller und sah, dass Robin den Kopf schüttelte und lächelte.
»Alex, dir fallen die Augen zu.«
»Entschuldigung.«
»Ach, lass doch, geh jetzt lieber ins Bett.«
Sie trank den Kaffee aus, stand auf und begann,
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