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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Bauhaus-Architektur der Klinik.
    »Wer sind Sie?« Er sprach lebhaft, mit britischem Akzent, Oxford oder Cambridge.
    Ich erhob mich und stellte mich vor.
    »Ach, der Psychotherapeut. Mrs. Vann hat mir berichtet, dass Jamey Sie angerufen hat. Ich bin Dr. Mainwaring.«
    Er drückte mir kräftig, aber distanziert die Hand.
    »Schön von Ihnen, dass Sie den langen Weg hier heraufgekommen sind, aber ich habe leider nicht viel Zeit für Sie. Ich muss dringend einige Sachen regeln.« Trotzdem fragte er neugierig: »Was hat der Junge Ihnen am Telefon erzählt?«
    »Nichts, was einen Sinn ergeben hätte. Er hatte furchtbare Angst, schien Stimmen zu hören und war völlig außer Kontrolle.«
    Mainwaring hörte mir aufmerksam zu, schien aber offensichtlich von meinem Bericht nicht überrascht zu sein.
    »Wie lange ist er schon in diesem Zustand?«
    »Schon einige Zeit.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Ein trauriger Fall. Er war offenbar früher sehr intelligent.«
    »Er war ein kleines Genie, außerhalb jeden Maßstabs.«
    Er kratzte sich an der Nase. »Ja, man kann das kaum glauben.«
    »Ist sein Zustand so ernst?« Ich hoffte, aus ihm noch etwas herauszulocken.
    »Sehr ernst.«
    »Er war sehr launisch«, sagte ich, um den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. »Kompliziert, was bei seiner Intelligenz zu erwarten ist. Aber es gab keine Anzeichen für eine Psychose. Ich hätte eher eine Depression erwartet. Was führte denn zur Krise? Drogen?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Eine plötzlich einsetzende Schizophrenie. Wenn ich mir die Ursache erklären könnte, würde ich einen Ruf aus Stockholm erwarten.« Er lächelte und zeigte die typischen Zähne eines Tee trinkenden Engländers. Sein Lächeln verschwand sofort wieder. »Ich müsste schon lange weg sein«, sagte er mehr zu sich selbst, »nachsehen, ob man ihn schon gefunden hat. Aus Rücksicht auf die Familie habe ich die Behörden noch nicht benachrichtigt. Aber wenn meine Leute ihn nicht bald finden, muss ich die Polizei rufen. In den Bergen wird es jetzt sehr kalt, er könnte sich eine Lungenentzündung holen.«
    Er wollte gehen.
    »Haben Sie etwas dagegen, dass ich warte, um ihn wiederzusehen?«
    »Das dürfte nicht ratsam sein, Dr. Delaware, aus Gründen der Vertraulichkeit und sonstigen. Ich schätze Ihre Anteilnahme und bedaure, dass Sie die lange Fahrt hierher umsonst gemacht haben. Jetzt muss erst die Familie benachrichtigt werden. Das macht einige Schwierigkeiten, denn sie befindet sich im Urlaub in Mexiko, Sie kennen ja das Problem mit den Telefonleitungen dort.« Er machte einen besorgten Eindruck.
    »Vielleicht können wir später einmal über den Fall diskutieren, wenn die Umstände es zweckmäßig erscheinen lassen.«
    Er handelte völlig korrekt. Ich konnte weder rechtlich noch beruflich auch nur die geringste Information über Jamey verlangen, auch nicht aus moralischen Erwägungen. Jamey hatte mich zwar um Hilfe gebeten, aber was war das wert? Er war unzurechnungsfähig, völlig außerstande, überlegt zu handeln.
    Aber dennoch war er in der Lage gewesen, seine Flucht zu planen, sie auszuführen und sich meine Telefonnummer zu besorgen.
    Ich sah Dr. Mainwaring an, und mir war klar, dass ich mit meinen offenen Fragen weiterleben musste. Selbst wenn er die Antworten gewusst hätte, würde er sie nicht herausgerückt haben.
    Er schüttelte mir noch einmal die Hand, murmelte eine Entschuldigung und verschwand. Er hatte sich freundlich und kollegial verhalten, mehr nicht.
    Ich war wieder allein im Empfangsraum. Hinter mir hörte ich ein Schlurfen; Edwards, der Wachmann, watschelte herein. Er warf mir die schwächliche Imitation eines festen Männerblicks zu und fummelte an seinem Gummiknüppel herum. Seinem Gesicht nach hätte er sich an mir gerne für die Niederlagen dieser Nacht gerächt.
    Bevor er seinen Gefühlen Ausdruck verleihen konnte, verschwand ich.

3
    Gegen Viertel vor sechs war ich wieder zu Hause. Robin schlief noch, und da ich sie nicht wecken wollte, setzte ich mich ins Wohnzimmer und betrachtete den Himmel. Das frühe Sonnenlicht ließ den eben noch nebeltrüben Horizont glänzen wie Sterlingsilber. Um Viertel nach sechs stand Robin auf, ich hörte sie nebenan summen. Ich ging ins Schlafzimmer hinüber, wo sie in ihrem weinroten Kimono stand. Wir umarmten uns. Robin befreite sich aus der Umarmung, fasste mich ans Kinn, betrachtete meine zerknitterten Kleider und fragte erstaunt:
    »Warst du etwa die ganze Zeit wach?«
    »Ich bin vor einer

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