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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Taschenlampen.«
    Dann saßen wir da und tranken Kaffee. Ich fragte sie, welche Art von Patienten in der Klinik behandelt würde. Bevor sie antwortete, steckte sie sich die nächste Zigarette an.
    »Wenn Sie damit herausbekommen wollen, ob hier viele Patienten abhauen, muss ich leider die Antwort verweigern.«
    Ich beteuerte, dass ich das überhaupt nicht gemeint hätte, aber sie unterbrach mich.
    »Wir sind kein Gefängnis. Die meisten Stationen sind offen. Hier ist die übliche Kundschaft: übergeschnappte Jugendliche, Depressive nach einem gefährlichen Schub, Magersüchtige, weniger Manische, Alzheimersche, Kokainsüchtige und Alkoholiker zum Entzug. Die Station C ist klein, sie hat nur zehn Betten, die selten voll belegt sind. Aber wir haben dort den meisten Ärger. Die Patienten dort sind unberechenbar, unruhige Schizophrene, die sich nicht im Griff haben, reiche Verbrecher mit guten Beziehungen, die sich ein paar Monate untersuchen lassen, um sich vorm Gefängnis zu retten, Rauschgiftsüchtige, die paranoid geworden sind. Aber mit Phenotiazin halten wir auch die ruhig.« Ihre Laune hatte sich wieder verschlechtert, sie stand auf, richtete das Häubchen und ließ ihre Zigarette in den kalten Kaffee fallen.
    »Ich muss nachsehen, ob sie ihn schon gefunden haben. Kann ich noch etwas für Sie tun?«
    »Nein, danke.«
    »Dann gute Heimfahrt.«
    »Ich würde gern hier bleiben und auf Dr. Mainwaring warten.«
    »Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun. Ich habe ihn angerufen, kurz nachdem wir bemerkt hatten, dass Jamey weg ist, aber er ist mit seinen Kindern in Redondo Beach. Das ist eine lange Fahrt von dort. Sie werden hier eine Weile festsitzen.«
    »Ich werde auf ihn warten.«
    Sie nestelte an ihrem Häubchen und zuckte die Achseln.
    »Wie Sie meinen.«
    Dann war ich allein, sank auf meinen Sessel und versuchte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen, jedoch ohne Erfolg. Eine Weile saß ich nervös herum, stand dann auf, um mir in der Toilette das Gesicht zu waschen. Im Spiegel sah ich müde aus, trotzdem fühlte ich mich energiegeladen. Vermutlich lief ich auf Reservetank.
    Die Uhr im Empfangsraum zeigte vier Uhr siebenunddreißig. Ich stellte mir vor, wie Jamey starr vor Angst in der Dunkelheit herumirrte.
    Um nicht an ihn denken zu müssen, setzte ich mich wieder hin und las ein Exemplar der Klinikzeitung The Canyon Oaks Quarterly. Der Leitartikel behandelte Finanzierungsprobleme bei Geisteskrankheiten, viel Gerede. Der Kern der Sache war, dass die Familien der Patienten gedrängt wurden, von Abgeordneten und Versicherungsträgern mehr Geld zu fordern. Kleinere Artikel handelten vom anticholinergischen Syndrom im Alter - Fehldiagnosen bei älteren Menschen durch drogeninduzierte Psychosen -, von den Hauptregeln der Beschäftigungstherapie, von der Klinikapotheke und von einem neuen Programm zur Behandlung von Essstörungen. Die ganze Rückseite enthielt eine Abhandlung von Dr. Guy Mainwaring, mit dem Titel »Die Veränderungen der Aufgabe des Psychiaters«. Er führte darin aus, dass Psychotherapie bei ernsthaften geistigen Störungen von minderer Bedeutung sei und den medizinisch nicht ausgebildeten Therapeuten überlassen werden könne. Er unterstrich, dass Psychiater Ärzte seien und als »biochemische Ingenieure« zur klassischen Medizin zurückkehren müssten. Der Artikel schloss mit einem Lobgesang auf die moderne Psychopharmakologie.
    Ich legte das Blättchen weg und wartete zunehmend nervöser. Nach einer halben Stunde hörte ich schließlich Motorgeräusche und das Knirschen von Reifen auf dem Kies. Grelles Scheinwerferlicht fiel durch die Scheiben des Eingangs und blendete mich. Als das Licht erlosch, konnte ich das Waffelmuster eines Mercedeskühlers erkennen. Dann öffnete sich die Tür, und ein Mann stürmte herein.
    Er war Mitte fünfzig, eine hagere Gestalt mit einem zerklüfteten Gesicht. Graubraune, schüttere Haare waren sorgfältig über einen gewaltigen Schädel zurückgebürstet. Über einer seiner starken geschwungenen Brauen hatte er einen Leberfleck. Die lange und scharf geschnittene Nase saß etwas schief im Gesicht, unruhige braune Augen steckten wie Glaskugeln in tiefen Höhlen. Er trug einen grauen Anzug, der vor Jahren einmal viel Geld gekostet haben musste, dazu ein weißes Hemd mit grauer Krawatte. Das Jackett war weit und bequem, die Hosen beulten sich über derben schwarzen Halbschuhen. Diesem Mann waren modische Details gleichgültig, er war das passende Gegenstück zur

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