Jan Fabel 01 - Blutadler
einem Handtuch und tappte in die Küche, wo Mausi untypisch schüchtern in einer Ecke saß.
»Was hast du angestellt, du Spitzbube?« Annas Blick schweifte durch die Küche, um einen Hinweis auf eine Missetat des Katers zu finden. Sie klappte das Küchenfenster auf, durch das Mausi Zugang zu dem kleinen Balkon der Wohnung hatte, und er sprang blitzschnell hinaus. Anna zuckte die Achseln, holte eine Mineralwasserflasche aus dem Kühlschrank und nahm ein paar erfrischende Schlucke. Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und hatte sich gerade angezogen, als sie ein Klopfen an der Tür hörte. Es musste einer der Nachbarn sein, denn Besucher von außen kamen ohne Klingeln und Kontakt über die Sprechanlage nicht ins Haus. Wahrscheinlich war es die alte Frau Kreuzer, die unmittelbar über ihr wohnte. Frau Kreuzer, die wusste, welchen Beruf Anna hatte, kam häufig an die Tür, um über verdächtige Gestalten zu sprechen, die sie im Supermarkt, in der Bücherei oder auf der Straße vor dem Gebäude gesehen hatte. Anna hörte stets geduldig zu, bot der alten Frau eine Tasse grünen Tees an und ließ sie von ihrer vorgeschobenen Wachsamkeit und Hilfsbereitschaft zu allgemeinem Klatsch überwechseln. Natürlich waren die Sorgen der Nachbarin ein Vorwand, um eine Oase der Freundschaft in der einsamen Wüste ihres Tages zu schaffen, doch Anna fühlte sich nicht belästigt. Heute Abend hätte sie auf die Ablenkung jedoch gern verzichtet. Obwohl sie lange geschlafen hatte, war sie noch recht benommen, als sie zur Tür ging.
»Guten Abend, Frau Kreuz ...«, begann sie, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. Ihr Herz schien im selben Moment zu stocken wie ihre Stimme, als sie das kalte grüne Feuer von John MacSwains Augen erblickte.
»Hallo, Anna«, sagte MacSwain.
Verwirrung spiegelte sich in ihrer Miene wider. Wie um ihre Frage zu beantworten, hob MacSwain den Zeigefinger, an dem ihre Hausschlüssel baumelten. Anna sah blitzschnell zur Seite. Bereits diese kleine Bewegung ihres Kopfes brachte ihre Sinne aus dem Gleichgewicht. Ihr Blick suchte verstohlen nach ihrer Dienstpistole, die sie im Halfter auf den Tisch neben der Tür gelegt hatte. Aber die 9-mm-SIG-Sauer war verschwunden. In jener Sekunde fügte sie alles zusammen: die Geräusche in der Küche und Mausis Nervosität. Sie wandte sich wieder MacSwain zu und konzentrierte sich auf sein Gesicht. Unwillkürlich stellte sie einen Vergleich zwischen seinem kalten grünen Blick und dem frostigen Desinteresse an, mit dem Mausi sie gewöhnlich betrachtete. Das ist es, dachte sie stumpf, er ist kein Mensch, sondern etwas anderes. Und genau das hatte sie Fabel erklären wollen: dass MacSwain ein schwer zu greifendes, aber entscheidendes Element fehlte. Sie taumelte und wollte sich festhalten. In diesem Moment trat MacSwain vor und schob ihr die Hände unter die Arme.
»Vorsichtig«, sagte er ohne eine Spur von Besorgnis. »Ich glaube, du brauchst noch einen Schluck Wasser.« Während der Drogencocktail, den MacSwain ihrem Mineralwasser hinzugefügt hatte, Annas Bewusstsein lähmte, spürte sie seltsamerweise den Drang zu sprechen.
»Ich ... ich fühle mich nicht sehr wohl«, sagte sie nur für MacSwain, und sie wusste nicht, warum sie diese Worte aussprach.
Polizeipräsidium Hamburg,
Samstag, den 21. Juni, 21.40 Uhr
Maria, Werner, Paul und van Heiden saßen bereits im Konferenzzimmer, als Fabel eintraf. Außerdem hatte Maria zwei Beamte des erweiterten Teams, deren Schicht noch nicht beendet war, hinzugezogen. Fabel, mit dem Buch, das Otto ihm geschenkt hatte, unter dem Arm, schritt energisch in den Raum und stellte sich vor die Schautafel.
»Ich möchte sofort zur Sache kommen«, sagte Fabel. »Wir haben einen neuen Hauptverdächtigen. Oder einen anderen Hauptverdächtigen: John MacSwain, neunundzwanzig Jahre alt, britischer Staatsbürger, wohnhaft in Deutschland.«
»Was ist mit Witrenko?«, fragte van Heiden.
»Wassyl Witrenko spielt immer noch eine wichtige Rolle. Ich glaube, dass wir es hier mit einem Meister und seinem Lehrling zu tun haben. Oder mit einem Hohepriester und seinem Jünger. Witrenko versteht sich vollendet darauf, Menschen zu manipulieren. Seine Männer folgen ihm mit einer sklavischen Hingabe, die sich auf eine unausgegorene Wiederaufbereitung alter nordischer Mythen und Überzeugungen stützt. Aber er kontrolliert nicht nur seine eigenen Männer, sondern auch alle möglichen anderen Personen, um seine Ziele durchzusetzen. Und dazu
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