Jan Fabel 01 - Blutadler
in die Luft gesprengt. Aus der Realität verbannt, lebten sie nur noch in Fabels Gedächtnis fort.
Fabel ließ sich wieder an der Wand hinunter in eine sitzende Position sacken und merkte, wie ein Schluchzen in seiner Kehle aufstieg. Er unterdrückte es, legte den Hinterkopf ans Mauerwerk und wartete auf Hilfe.
Polizeipräsidium Hamburg,
Samstag, den 21. Juni, 21.00 Uhr
Aus dem Bericht des Feuerwehreinsatzleiters erfuhr Fabel nur das, was er bereits wusste. »Neben dem Sprengstoff am Pfeiler fanden wir Hinweise auf einen Brandbeschleuniger neben oder nahe der Bürokabine. Ich vermute, dass es sich um Petroleum handelte. Nach der Explosion war nicht viel von der Kabine übrig, und was sich im Innern befand, fing sofort Feuer. Wir entdeckten zwei offene Fünfliterbehälter. Dadurch wurden alle gerichtsmedizinischen Spuren am Tatort verwischt.«
Niedergeschlagen dankte Fabel dem Einsatzleiter, und der Mann verließ das Büro. Maria versuchte, das gedrückte Schweigen zu durchbrechen. »Holger Brauner und sein Spurensicherungsteam sind im Moment vor Ort. Aber es gibt nicht viel, was sie untersuchen könnten.«
Fabel schaute Maria, Werner und Paul nicht an. »Er spielt mit mir. Er wollte, dass ich alles sehe und überlebe, um Zeugnis abzulegen. Genau deshalb ließ er auch die Frauen in Afghanistan wie Ausstellungsstücke in der blutverschmierten Scheune hängen - damit andere zu Zeugen wurden.« Fabel blickte auf, und zum ersten Mal sahen seine Kollegen ihren Chef verzagt und hilflos vor sich. »Das ist seine Kunst. Nicht anders als die Gemälde, die Marlies Menzel in Bremen ausstellt.«
»Was nun, Chef?« Marias Worte waren weniger eine Frage als eine Herausforderung.
»Nun fahre ich nach Hause, um zu duschen.« Fabel hatte für einen einzigen Tag zu viel vom Tod gesehen. Sein Haar und seine Haut waren von einer Staubschicht bedeckt, und sein Mund und sein Rachen fühlten sich rau an. »Treffen wir uns morgen gegen zehn wieder im Präsidium.«
»Gemacht, Chef. Soll ich das ganze Team zusammenrufen?«
Fabel lächelte. Maria beschwerte sich nie, sondern tat genau das, was für die Arbeit erforderlich war.
»Ja bitte, Maria. Aber lass Anna außen vor. Ich habe ihr vierundzwanzig Stunden freigegeben. Ich glaube, die ganze MacSwain-Operation hat sie zu sehr mitgenommen.« Maria nickte. »Aber würdest du Kriminaldirektor van Heiden bitten, zu dem Treffen zu kommen?«
»Jawohl, Chef.«
Hamburg-Pöseldorf,
Samstag, den 21. Juni, 21.30 Uhr
Die drei Nachrichten, die Fabel auf seinem Anrufbeantworter vorfand, waren wie Rettungsseile aus einer Welt, die sich jenseits von Gewalt und Mord befand. Die erste stammte von seiner Tochter Gaby. Er hörte das klingende Lachen, das ihre Stimme von ihren ersten Worten an untermalte. Es war, als hätte jemand die schweren, verstaubten Vorhänge in einem dunklen, unheimlichen Zimmer heruntergerissen, sodass es mit Licht überflutet wurde. Doch heute Abend war es nur ein einziges Zimmer in einer finsteren Villa, das erhellt wurde.
Gaby wollte das verpasste Wochenende wettmachen, indem sie ihn, wenn möglich, am kommenden Wochenende besuchte. Es gab ein Konzert der »Fantastischen Vier«, das sie interessierte. Fabel konnte sich nie damit abfinden, wenn Rap - ein in den Ghettos von New York, Chicago und Los Angeles entstandenes und in jener besonderen Form der amerikanischen Gossensprache verankertes Musikgenre - auf Deutsch vorgetragen wurde. Aber Gaby begeisterte sich dafür - einer jener Gegensätze, die an Zahl zunehmen, wenn ein Kind zu einer unabhängigen Persönlichkeit wird. Fabel seufzte schwer, denn es war keineswegs sicher, dass der heimtückische Griff, mit dem diese Ermittlung sein Leben umklammerte, bis zum nächsten Wochenende gelockert werden würde.
Die zweite Nachricht war von Susanne. Sie wollte, dass er sie anrief, um sie wissen zu lassen, wie es ihm ergangen war. Die dritte Nachricht stammte von Fabels Bruder Lex.
Lex war sein älterer Bruder, doch dessen ungestümer jugendlicher Geist ließ ihn oft ein Jahrzehnt jünger wirken. Es war nicht der einzige Kontrast zu Fabel: Lex war kleiner, dunkelhaarig und mit einem spitzbübischen keltischen Humor ausgestattet, der die Haut um seine Augen mit permanenten Lachfältchen durchzogen hatte. Er betrieb ein Hotelrestaurant auf Sylt, jener nordfriesischen Insel, die einst für ihren Fischfang berühmt gewesen war, doch nun viel einträglichere Fänge einfuhr: die Reichen, Mächtigen und
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