Jan Fabel 01 - Blutadler
Berühmten aus Hamburg und Berlin. Das Hotelrestaurant lag auf einem niedrigen Kamm hinter den Dünen und bot einen spektakulären Ausblick auf eine breite Fläche weißen Sandes und die wechselhafte Farbpalette der Nordsee. Fabel hatte schon viel Zeit bei Lex verbracht, und dessen Haus war zu einer Art Zuflucht für ihn geworden. Dort hatte sich Fabel nach seiner Schussverletzung erholt. Und dorthin hatte er sich zurückgezogen, als er sich mit der Tatsache abfinden musste, dass er kein Ehemann und kein ganztägiger Vater mehr war.
Lex nannte keinen besonderen Grund für seinen Anruf. Er wollte einfach nur mit seinem Bruder reden - ein Angebot, das, wie Fabel sich schuldbewusst eingestand, häufig zu einseitig war. Die Stimme seines Bruders hatte bei Fabel den dringenden Wunsch geweckt, Hamburg zu entkommen und Wochen mit dem Anblick des sich stets wandelnden Meeres zu verbringen; seine Anzüge und sein städtisches Äußeres hinter sich zu lassen und stattdessen stoppelbärtig in ausgeblichenen Sweatshirts, Jeans und Turnschuhen herumzulaufen. Aber diesmal sah er sich in seinem Wunschtraum von einer Gefährtin begleitet: von Susanne. Er würde sie bitten, ihn nach Sylt zu begleiten, sobald dieser schreckliche Fall abgeschlossen war.
Bevor Fabel auf eine der Nachrichten reagierte, wählte er Mahmoots Handynummer. Der Türke war dabei gewesen, als Fabel sich in der Speicherstadt zum ersten Mal mit Witrenkos Vater getroffen hatte. Zwei der vier Anwesenden lebten nicht mehr, und Fabel wollte sich vergewissern, dass Mahmoot nicht der Dritte war. Als er seine Stimme hörte, atmete Fabel leise auf und berichtete ihm, was er bei seinem zweiten Treffen im Lagerhaus vorgefunden hatte. Zu seiner Überraschung zitterten ihm die Hände, als er die Ereignisse schilderte.
Mahmoot schwieg eine Zeit lang. »Unglaublich, Jan. Ich hatte meine Welt für finster gehalten«, sagte er schließlich, »aber was du da beschreibst, macht mir wirklich Angst. Ich kann nicht glauben, dass sie tot sind. Ich kann nicht glauben, dass er so etwas mit seinem eigenen Vater angestellt hat.« Er schien zu überlegen. »Hör zu, Jan, ich werde eine Weile von der Bildfläche verschwinden. Aus Hamburg abhauen. Ich weiß nicht, ob dieser Super-Wikinger mich für ein Problem hält, aber jedenfalls möchte ich nicht als nordische Götterspeise enden. Ich melde mich, wenn ich zurückkomme. Bis dahin brauchst du nicht nach mir Ausschau zu halten.«
»In Ordnung«, gab Fabel zurück.
Mahmoot legte auf.
Nun rief Fabel Gaby an. Es war der übliche kurze, fröhliche Austausch mit seiner Tochter. Zwischen ihnen herrschte ein Verständnis, das ihnen half, umfangreiche Geschehnisse mit ein paar Worten zusammenzufassen. Fabel fürchtete, dass der Fall fast seine ganze Zeit in Anspruch nehmen würde, aber er wollte, dass sie ihn besuchte. Sie versicherte ihm, dass es ihr nichts ausmachen würde, wenn er arbeiten müsse. Die Zeit, die Fabel mit Gaby verbrachte, war für ihn über alle Maßen kostbar, und er genoss es stets, mit ihr zusammen zu sein. Es gelang ihnen immer, auch den kürzesten Zeitraum ausgiebig zu nutzen.
Nach dem Gespräch fiel Fabel ein, dass er noch nichts gegessen hatte. Er ging in die Küche, machte sich einen Salat und braute einen zu starken schwarzen Kaffee. Während er die Mahlzeit zubereitete, fing er an, Lex' Nummer zu wählen, doch er legte auf, bevor die Verbindung zustande kam. Nun rief Fabel endlich bei Susanne an. Sie war entsetzt, als sie von den Ereignissen in der Speicherstadt erfuhr, und wollte unbedingt zu ihm kommen. Aber Fabel erklärte, er sei sehr erschöpft und müsse schon am nächsten Morgen zu einer Besprechung ins Präsidium zurückkehren. Trotz ihrer Beunruhigung hellte sich ihre Stimme auf, als Fabel ihr den Vorschlag unterbreitete, gemeinsam auf Sylt Urlaub zu machen.
»Wunderbar, Jan. Ich glaube, das hätten wir beide dringend nötig. Mir macht der psychische Preis zu schaffen, den du für all diese Gräuel bezahlen musst.«
Mir auch, dachte Fabel.
Nach dem Telefonat mit Susanne aß er den Salat ohne großen Genuss, goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein, ging ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und betrachtete sein Spiegelbild in dem großen Panoramafenster. Mit einem tiefen Atemzug schaute er auf seine Uhr. Er musste einen Teil der kaum erträglichen Spannung in seinen Nacken- und Schultermuskeln lindern, bevor er sich schlafen legte, um am nächsten Morgen einigermaßen erfrischt ins Präsidium
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