Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
besser«-Miene auf. Fabel seufzte. Es war ein naiver, wenn nicht gar dummer Kommentar gewesen. Nach mehr als einem Jahrzehnt an der Spitze einer Mordkommission sollte ihn kaum noch etwas überraschen, wozu Menschen fähig waren, schon gar nicht die Möglichkeit, dass ein pädophiler Lehrer eine Leidenschaft für eine seiner Schutzbefohlenen entwickelte.
»Jedenfalls konnte Klatt nichts Konkretes finden, um seinen Verdacht zu erhärten?«, fragte Fabel.
Anna biss wieder in ihre Bratwurst und schüttelte den Kopf. »Er hat ihn mehrere Male verhört.« Sie sprach mit vollem Mund und hielt ihre Fingerspitzen erneut vor die Lippen. »Fendrich begann von Schikanierung zu reden. Klatt musste ihn schließlich in Ruhe lassen. Man kann Fendrich zugute halten, dass keinerlei eindeutige Indizien gegen ihn vorlagen.«
Fabel schaute durch das Fenster, in dem sich sein Gesicht dunkel spiegelte, auf den beleuchteten Parkplatz. Ein Mercedes bremste, und ein Paar in den Dreißigern stieg aus. Der Mann öffnete die hintere Tür, und ein Mädchen von ungefähr zehn Jahren sprang hinaus und griff automatisch nach der Hand seines Vaters. Es war eine instinktive, gewohnheitsmäßige Geste: die angeborene Erwartung eines Kindes, beschützt zu werden.
Er wandte sich wieder Anna zu. »Ich bin nicht sicher, dass es dasselbe Mädchen ist.«
»Bitte?«
»Ich behaupte nicht, dass sie es nicht sein kann. Aber ich bin mir nicht sicher. Es gibt Unterschiede. Vor allem die Augen.«
Anna lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schürzte die Lippen. »Dann ist es ein verdammt seltsamer Zufall, Chef. Wenn es nicht Paula Ehlers ist, dann ist es zumindest ein Mädchen, das ihr verteufelt ähnlich sieht. Und das außerdem noch ihren Namen und ihre Adresse in der Hand hatte. Wie gesagt, ein verdammt seltsamer Zufall… und wenn ich gelernt habe, Dingen zu misstrauen, dann sind es Zufälle.«
»Ich weiß. Aber es passt einfach nicht recht zusammen.«
Die B 433 führt auf ihrem Weg nach Norden, das heißt nach Schleswig-Holstein und Dänemark, durch Norderstedt. Harksheide liegt nördlich des Ortszentrums, und der Buschberger Weg verläuft rechts von der B 433. Kurz bevor sie die Abzweigung zum Buschberger Weg erreichten, bemerkte Fabel, dass die Schule, die Paula besucht hatte, in einiger Entfernung links von der Hauptstraße lag. Paula musste diese verkehrsreiche Straße also auf ihrem Heimweg überquert haben und konnte eine Weile an ihr entlanggegangen sein. Hier war sie vermutlich entführt worden – höchstwahrscheinlich am Rand der nach Hamburg führenden Fahrspur.
Als sie bei der Familie Ehlers ankamen, war es, wie Fabel vermutet hatte: Es knisterte eine finstere Elektrizität – etwas zwischen Vorahnung und Entsetzen. Das Haus selbst war ein ganz gewöhnlicher Bungalow mit einem steilen, roten Ziegeldach – die Art Behausung, wie man sie von den Niederlanden bis zur Ostseeküste, von Hamburg bis zur Nordspitze Jütlands immer wieder sieht. Ein gepflegter, doch fantasieloser Garten mit üppiger Bepflanzung umgab das Haus.
Frau Ehlers war Anfang vierzig. Ihr Haar war offensichtlich so blond gewesen wie das ihrer Tochter, doch die Jahrzehnte hatten seinen Glanz um eine Nuance gedämpft. Ihr nordisches Aussehen war typisch für die Menschen von Schleswig-Holstein: hellblaue Augen und vorzeitig durch die Sonne gealterte Haut. Ihr Mann, den Fabel auf rund fünfzig Jahre schätzte, wirkte ernst. Er war hoch gewachsen und schlaksig. Auch er hatte blonde Haare, doch es war noch ein wenig matter als das seiner Frau. Seine dunkelblauen Augen stachen aus seinem blassen Gesicht hervor. Während Fabel Anna Wolff und sich selbst vorstellte, verglich er das, was er sah, mit den Bildern in seinem Gedächtnis: das Ehepaar Ehlers, das Mädchen auf dem Foto in der Akte und das Mädchen am Strand. Wieder hakte sich etwas in seinem Hirn fest – ein kaum wahrnehmbarer Widerspruch.
»Haben Sie unser Kindchen gefunden?« Frau Ehlers blickte Fabel so sehnsüchtig an, dass er es kaum ertragen konnte.
»Ich weiß es nicht, Frau Ehlers. Es ist möglich. Sie oder Ihr Mann müssen die Leiche identifizieren.«
»Also besteht eine Chance, dass es nicht Paula ist?« Ein Anflug von Trotz war aus der Stimme von Herrn Ehlers herauszuhören. Fabel erhaschte Annas Blick aus dem Augenwinkel.
»Durchaus, Herr Ehlers, aber alle Anzeichen deuten darauf hin, dass es Paula sein könnte. Die Tote ist größer, als es Paula bei ihrem Verschwinden war, aber sie könnte in den
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