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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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vorkommt, ist die Tatsache, dass die Grimms sie für eine geradezu beispiellose Quelle uralter Weisheit hielten. Und sie meinten offenbar, dass Frauen die Hüterinnen der deutschen mündlichen Tradition seien. Wenn sich Ihr Mörder auf Frauen, besonders auf alte Frauen, konzentrieren würde, dann könnte es eine Verbindung geben.« Wieder ein kurzes Schweigen. »Eines an dem Brief macht mir zu schaffen. Und zwar sehr. Die Art, wie der Mann unterschrieben hat.«
    »Was… ›Ihr Märchenbruder‹?«
    »Ja…« Fabel spürte ein Unbehagen in Weiss’ Stimme. »Ihr Märchenbruder. Wie Sie vielleicht wissen, starb Jacob vier Jahre vor Wilhelm. Wilhelm hielt eine gefühlvolle Grabrede bei Jacobs Beerdigung. Er nannte ihn seinen Märchenbruder. Scheiße. Herr Fabel, dieser Verrückte glaubt, dass er und ich unter einer Decke stecken.«
    Fabel atmete tief durch. Es hatte bei all den Morden tatsächlich eine Partnerschaft gegeben. Und Weiss war der andere Partner – allerdings, ohne etwas davon zu ahnen.
    »Ja, Herr Weiss. Das fürchte ich auch.« Fabel machte eine Pause. »Mir fällt Ihre Theorie ein, dass Literatur zur Realität gemacht werden kann und dass Sie umgekehrt Menschen in Ihren Büchern ›leben‹ lassen.«
    »Ja und?«
    »Es sieht so aus, als hätte er Sie in seine eigene Geschichte einbezogen.«

50.
    Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Mittwoch, den 21. April, 9.45 Uhr
    Fabel hasste die Leichenhalle. Und Autopsien konnte er nicht ausstehen. Es lag weniger an einem natürlichen Abscheu vor Blut und Eingeweiden, obwohl auch dieses Gefühl eine Rolle spielte und einen ekelhaften Druck in der Magengegend auslöste. Der Hauptgrund jedoch war die unfassbare Tatsache, dass ein Mensch, der sich selbst als Zentrum seines gewaltigen und komplexen Universums begriff, plötzlich zu bloßem Fleisch werden konnte. Es war die absolute Leblosigkeit der Toten, die plötzliche, totale und unwiderrufliche Zerstörung der Persönlichkeit, die er hasste. Bei jedem Mordfall versuchte Fabel, in seinem Geist etwas von dem Opfer am Leben zu erhalten, als ob es sich noch in einem anderen, fernen Zimmer befände. Für ihn waren es Menschen, denen man Unrecht getan hatte und denen er so etwas wie Gerechtigkeit verschaffen musste, als wäre es eine Schuld gegenüber den Lebenden. Nicht einmal das Aufsuchen eines Tatorts oder die Betrachtung der Fotos von tödlichen Verletzungen schien dieses Gefühl, es mit einer Person zu tun zu haben, zu beeinträchtigen. Aber wenn Fabel zusah, wie der Mageninhalt eines Menschen in eine Waagschale geschöpft wurde, dann wurde die Person zu einer Leiche.
    Möller war gut in Form. Als Fabel den Obduktionssaal betrat, betrachtete der Gerichtsmediziner ihn mit seiner wie üblich geringschätzigen Miene. Er trug noch den blauen Obduzierkittel, und seine hellgraue Plastikschürze wies verschmierte Blutspuren auf. Der rostfreie Autopsietisch war leer, und Möller spritzte ihn fast geistesabwesend mit dem daran angebrachten Sprühkopf sauber. Aber irgendetwas schien in der Luft zu schweben. Fabel hatte lange zuvor festgestellt, dass die Totendie Lebenden nicht als Geister, sondern mit ihren Gerüchen heimsuchen. Möller hatte seine Reise durch die Materie eines Menschen, der früher Gerd Ungerer hieß, offenbar gerade abgeschlossen.
    »Interessant«, sagte Möller und sah müßig zu, wie das Wasser rosa herumwirbelte und das Blut zum Abfluss trieb. »Sehr interessant.«
    »Wieso?«, fragte Fabel.
    »Die Augen wurden nach dem Tod entfernt. Die Todesursache war ein einzelner Messerstich in die Brust. Eine geradezu klassische Methode… unter dem Brustbein nach oben direkt ins Herz. Ihr feiner Herr hat das Messer fast fünfundvierzig Grad im Uhrzeigersinn gedreht. Dadurch wurde das Herz wirkungsvoll zerstört, und das Opfer war innerhalb von Sekunden tot. Wenigstens hat er nicht lange gelitten und wusste nicht, dass seine Augen entfernt wurden. Wozu der Täter übrigens seine Hände benutzte. Nichts deutet auf ein Instrument hin.« Möller schaltete den Sprühkopf aus und lehnte sich auf den Tischrand. »Es gab keine Kampfspuren. Überhaupt keine. Keine Kerben oder Schnitte an den Händen oder Unterarmen und auch keine anderen Hinweise auf eine Gegenwehr.«
    »Also wurde das Opfer überrascht, oder es kannte den Mörder – oder beides.«
    Möller richtete sich wieder auf. »Das ist Ihr Gebiet, Herr Hauptkommissar. Ich nenne die Fakten, und Sie ziehen die Schlüsse. Aber es

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