Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Zettel war, die man in den Händen jedes der Opfer gefunden hatte. Brauner hatte auch erklärt, dass seine anfängliche Vermutung zugetroffen habe: Die Papiersorte war ein weit verbreitetes Massenprodukt, das überall im Land in Supermärkten, Bürobedarfsläden und Computergeschäften verkauft wurde. Deshalb ließ sich nicht herausfinden, wo und wann es erworben worden war.
Auch die Handschrift stimmte mit der auf den Zetteln überein, und von der chemischen Analyse der roten Tinte wurde keine Überraschung erwartet. Besonders interessant an Werners Fund war für Fabel die Tatsache, dass es sich um einen Brief handelte. Fanpost. Nicht etwas an einem Tatort Hinterlassenes. Möglicherweise hatte sich der Mörder hier keine sonderliche Mühe gegeben, Spuren zu vermeiden. Aber Fabel sollte enttäuscht werden: Brauner konnte auf dem Brief weder DNS -Überreste noch Fingerabdrücke noch sonst etwas finden, das eine Identifikation des Verfassers ermöglichte.
Als der Mann an Weiss geschrieben hatte, wusste er bereits, dass er Morde begehen würde. Und er wusste auch, dass die Polizei den Brief irgendwann finden würde.
Brauner hatte vier Kopien beigelegt, auf denen das Schreiben auf das Zweieinhalbfache des Originals vergrößert worden war. Eine davon hing nun an der Schautafel.
Lieber Herr Weiss,
ich wollte Ihnen nur mitteilen, wie entzückt ich über Ihr jüngstes Buch, Die Märchenstraße , bin. Ich sah der Lektüre mit großem Interesse entgegen und sollte nicht enttäuscht werden. Meiner Ansicht nach ist dies eines der bedeutendsten, profundesten Werke der modernen deutschen Literatur.
Während ich Ihr Buch las, wurde mir sehr deutlich, dass Sie mit der wahren Stimme Jacob Grimms sprechen, genau wie sich Jacob bemühte, mit der wahren Stimme Deutschlands zu sprechen: Es sind unsere Geschichten, unser Leben und unsere Ängste; unser Gutes und unser Böses. Wussten Sie, dass der britische Dichter W. H. Auden zu einer Zeit, als sein Land in einen tödlichen Kampf mit unserem verstrickt war, schrieb, dass die Grimm’schen Märchen, zusammen mit der Bibel, die Grundlage der westlichen Kultur bildeten? Eine solche Kraft haben diese Märchen, Herr Weiss. Eine solche Kraft hat die wahre, klare Stimme unseres Volkes. Ich habe sie so viele, viele Male gehört, und ich weiß, dass Sie mich verstehen, dass auch Sie die Stimme hören.
Sie haben oft davon gesprochen, dass Menschen Teile von Geschichten werden können. Glauben Sie auch, dass Geschichten zu Menschen werden können? Oder dass wir alle eine Geschichte sind?
Ich bin auf meine Weise ein Schöpfer von Geschichten. Nein, ich übertreibe meine Rolle: Ich bin eher ein Aufzeichner von Geschichten. Ich ordne sie an, damit andere sie lesen und ihre Wahrheit verstehen können. Wir sind Brüder, Sie und ich. Wir sind Jacob und Wilhelm. Aber während Sie, wie Wilhelm, diese Geschichten bearbeiten und ihre Einfachheit verschönern, um Ihr Publikum anzusprechen, strebe ich, wie Jacob, danach, ihre hohe, leuchtende Wahrheit darzubieten. Stellen Sie sich Jacob vor, wie er, verborgen außerhalb des Waldhäuschens von Dorothea Viehmann, den Geschichten lauscht, die sie nur Kindern erzählte. Stellen Sie sich das Wunderbare vor: jahrhundertealte, zauberhafte Geschichten, die über die Generationen hinweg weitergegeben wurden. Ich habeÄhnliches erlebt. Das ist es, was ich meinem Publikum bieten werde – und es wird Ehrfurcht empfinden.
Mit der Liebe eines Bruders zum anderen
Ihr Märchenbruder
Fabel las den Brief ein zweites Mal. Der Text sagte nichts Konkretes aus. Er konnte weder Weiss’ Argwohn noch den seines Verlags geweckt haben. Das Ganze klang eher nach einem verschrobenen Fan, der sich über seine eigene schriftstellerische Arbeit äußert, nicht nach einem Mörder, der seinen Plan enthüllt, die Grimm’schen Märchen mit echten Leichen nachzuspielen.
»Wer ist Dorothea Viehmann?« Werner stand neben Fabel und schaute zu der vergrößerten Kopie des Briefes hinauf.
»Sie war eine von den Grimms entdeckte alte Frau. Genauer gesagt, war es Jacob, der sie fand«, antwortete Fabel. »Sie wohnte in der Nähe von Kassel. Obwohl sie eine berühmte Geschichtenerzählerin war, weigerte sie sich, auch nur eine davon an Jacob Grimm weiterzugeben. Daher setzte er sich vor ihr Fenster und lauschte, während sie den Kindern des Dorfes die Geschichten erzählte.«
Werner wirkte beeindruckt.
Fabel drehte sich zu ihm um und lächelte. »Ich habe meinen Horizont
Weitere Kostenlose Bücher