Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
erweitert.«
Inzwischen hatten sich die übrigen Teammitglieder versammelt, und ein Summen aufgeregter Stimmen war zu hören, während sie das neue Beweisstück begutachteten. Fabel meldete sich zu Wort.
»Das hier verrät uns nicht mehr, als wir schon wissen. Die einzige zusätzliche Information, die wir daraus entnehmen können, ist möglicherweise eine weitere psychologische Erkenntnis, die Frau Dr. Eckhardt durch den Text gewinnt.« Susanne würde am folgenden Tag aus Norddeich zurückkehren, und Fabel hatte bereits eine Kopie zum Institut für Rechtsmedizin schicken lassen. Außerdem plante er, sie später im Haus seiner Mutter anzurufen und ihr den Inhalt vorzulesen, um ihre erste Reaktion zu hören.
Henk Hermann hob die Hand, als säße er in einem Klassenzimmer. Fabel nickte lächelnd. Hermann ließ die Hand verlegen sinken. »Er unterzeichnet mit ›Ihr Märchenbruder‹. Was soll das bedeuten?«
»Er sieht offenbar eine starke Beziehung zwischen sich und Weiss. Aber vielleicht steckt noch mehr dahinter. Und ich kenne die ideale Person, bei der ich mich erkundigen kann.«
»Die ideale Person wäre der Mörder selbst«, schaltete sich Werner ein.
»Und vielleicht ist es genau der, mit dem ich sprechen werde«, erwiderte Fabel grimmig.
Weiss nahm den Hörer bereits nach zweimaligem Läuten ab. Fabel vermutete, dass er sich gerade in seinem Arbeitszimmer aufgehalten hatte. Er erklärte dem Schriftsteller, die Polizei habe unter der an den Verlag adressierten Fanpost einen Brief entdeckt, der eindeutig von dem Mörder stamme. Weiss hörte schweigend zu, während Fabel ihm den Text vorlas.
»Und Sie sind überzeugt davon, dass er sich auf diese Morde bezieht?«, fragte Weiss, als Fabel geendet hatte.
»Ja. Es ist unzweifelhaft dieselbe Person. Gibt es in dem Brief etwas, das bedeutsam sein könnte? Zum Beispiel die Erwähnung von Dorothea Viehmann?«
»Dorothea Viehmann!« Weiss’ Tonfall klang zynisch. »Die Quelle der Weisheit der deutschen Volkskunde, zu der Jacob Grimm aufschaute. Und Ihr irregeleiteter Verrückter denkt natürlich das Gleiche.«
»Warum ist das ein Fehler?«
»Was ist nur los mit uns Deutschen? Wir suchen dauernd nach einer Identität. Wir wollen wissen, wer wir sind, und finden unweigerlich die falsche Antwort, verdammt noch mal.Die Grimms beteten Dorothea Viehmann an und hielten ihre Versionen deutscher Märchen für maßgeblich. Aber den Namen Viehmann erhielt sie durch ihre Heirat, ihr Mädchenname war Pierson. Sie war französischer Abstammung. Dorothea Viehmanns Eltern wurden, weil sie Protestanten – Hugenotten – waren, aus Frankreich vertrieben. Sie behauptete, ihre Geschichten seien deutsche Märchen, die sie von Reisenden auf dem Weg nach und von Frankfurt gehört hatte. In Wirklichkeit waren viele der Geschichten, die sie den Kindern erzählte, französischer Herkunft. Die gleichen Erzählungen waren ein Jahrhundert vorher oder noch früher von Charles Perrault in Frankreich aufgezeichnet worden. Und Dorothea Viehmann war nicht die Einzige. Da gab es noch die geheimnisvolle ›Marie‹, die ›Schneewittchen‹, ›Rotkäppchen‹ und ›Dornröschen‹ übermittelt haben soll. Wilhelm Grimms Sohn behauptete, sie sei eine alte Dienerin der Familie gewesen. Wie sich später herausstellte, war sie eine vermögende junge Gesellschaftsdame namens Marie Hassenpflug, ebenfalls französischer Abstammung, und hatte die Geschichten von ihrem französischen Kindermädchen gehört.« Weiss lachte. »Also lautet die Frage, Herr Fabel: Ist Dornröschen in Wirklichkeit la belle au bois dormant ? Und ist Rotkäppchen nicht le petit chaperon rouge ? Wie gesagt, wir suchen dauernd nach der Wahrheit über unsere Identität, und wir tappen immer wieder daneben. Am Ende verlassen wir uns darauf, dass ausländische Beobachter sagen, wer wir sind.«
»Ich glaube nicht, dass dieser Wahnsinnige patriotische Haarspalterei betreibt.« Fabel hatte keine Zeit für einen weiteren Vortrag von Weiss. »Ich wollte nur wissen, ob es irgendeine Bedeutung haben könnte, dass er Viehmanns Namen erwähnt.«
Ein kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Fabel stellte sich den riesigen Schriftsteller in seinem Arbeitszimmer mit dem dunklen, das Licht absorbierenden Holz vor. »Nein.Das glaube ich nicht. Seine Opfer gehören beiden Geschlechtern an, nicht wahr?«
»Ja. Er scheint auf Gleichberechtigung Wert zu legen.«
»Das Einzige, was mir an seiner Erwähnung von Dorothea Viehmann wichtig
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