Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
des Verhaltens. Dann ist es durchaus möglich, dass Ihr moralischer Familienvater zu einem lüsternen Wolf wurde.«
Während Fabel zurück ins Präsidium fuhr, schien die Aprilsonne freundlich auf Hamburg nieder. Die Stadt sah munter und frisch aus und bereitete sich auf den Sommer vor. Aber Fabel bemerkte nichts davon. Er war sich nur der dunklen, bedrohlichen Gegenwart eines Wahnsinnigen bewusst, der auf der Suche nach einer verdrehten literarischen oder kulturellen Wahrheit Menschen ermordete und verstümmelte. Er war so nahe, dass Fabel ihn fast riechen konnte.
51.
Hamburg-Altona, Donnerstag, den 22. April, 21.30 Uhr
Lina Ritter zwängte sich in das Kostüm und gelangte zu der Einsicht, dass sie allmählich zu alt für dieses Geschäft wurde. Nein, sie war schon zu alt dafür. Seit fast fünfzehn Jahren war dies ihr Beruf, und nun, mit vierunddreißig, hatte sie genug. Das war eine Sache für jüngere Frauen. Sie musste sich zunehmend »spezialisieren«, was bedeutete, auf die absonderlichen Wünsche bestimmter Kunden einzugehen. Die Rolle der Domina passte besser zu ihr, außerdem brauchte sie meistens niemanden zu ficken: Sie kommandierte irgendeinen fetten Geschäftsmann eine halbe Stunde lang herum, verprügelte ihm den Arsch, wenn er zu lange brauchte, ihren Anweisungen zu folgen, um ihm dann, während er sich einen runterholte, zu beschimpfen, wie unartig er sei und wie wütend er sie mache. Es wurde einigermaßen gut bezahlt, die gesundheitlichen Risiken waren geringer, und ihre Kunden wurden häufig damit bestraft, dass sie die Hausarbeit für sie erledigten.
Heute würde es jedoch schwieriger werden. Der Mann, der ihre Dienste gebucht hatte, hatte ihr im Voraus ein Bündel Bargeld überreicht. Dann hatte er von ihr verlangt, heute Abend die Kleidung zu tragen, die er für sie mitgebracht hatte. Dieses alberne, verdammte Kostüm ließ sie annehmen, dass sie diesmal nicht die dominierende Partnerin sein würde, und sie hatte sich darauf eingestellt, von dem großen Kerl gefickt zu werden.
Er war pünktlich eingetroffen, und nun wartete er im Schlafzimmer auf sie, während sie sich in das Kostüm quetschte. Es hätte sich besser für jemanden geeignet, der ein oder zwei Größen kleiner als Lina war. Was eine Frau alles tun musste, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen! Lina hatte vergessen, wie groß ihr Kunde war. Groß, aber still. Fast scheu. Er würde ihr keinen Kummer machen.
Lina ging ins Schlafzimmer und drehte eine Pirouette. »Gefällt’s dir?« Sie blieb mitten in der Drehung stehen, als sie ihn sah. »Oh… du hast auch ein besonderes Kostüm an…«
Der Mann stand neben dem Bett. Er hatte alle Lichter außer der kleinen Nachttischlampe hinter sich ausgeschaltet, sodass sich nur seine halbe Silhouette abzeichnete. Alles im Zimmer wirkte winzig neben seiner dunklen Masse. Er trug eine kleine Gummimaske, wie sie gelegentlich von Kindern verwendet wurde; sie hatte die Form eines Wolfsgesichts. Die Züge des Wolfes waren verzerrt, da sich die winzige Maske über ein zu großes Gesicht dehnte. Dann erkannte Lina, dass er kein hautenges Kostüm trug, wie sie zuerst gedacht hatte, sondern dass sein ganzer Körper, von den Knöcheln bis zu seiner Kehle und die Arme hinunter bis zu seinen Handgelenken, mit Tätowierungen bedeckt war. Mit Worten in der alten Vorkriegsschrift. Er stand wuchtig und schweigend da, mit der blöden Maske und seinem tätowierten Körper, das Licht hinter sich. In Lina stieg eine unbestimmte Angst hoch. Dann begann er zu sprechen.
»Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht, Gretel«, sagte er, und seine Stimme wurde durch die Gummimaske gedämpft.
»Gretel?« Lina schaute an ihrem Kostüm hinunter. »Das ist kein Gretel-Kostüm. Habe ich einen Fehler gemacht?«
Der Kopf hinter der zu kleinen Gummi-Wolfsmaske bewegte sich langsam hin und her. Er streckte die Hand aus und hielt ihr eine hellblaue Schachtel hin, die mit einem gelben Band verschnürt war.
»Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht, Gretel«, wiederholte er.
»Oh… oh, vielen Dank. Ich liebe Geschenke.« Lina machte einen, wie sie glaubte, koketten Knicks und nahm die Schachtel entgegen. Sie versuchte zu verbergen, dass ihre Finger zitterten, während sie das Band löste. »Na… was haben wir denn hier?«, sagte sie, als sie den Deckel hob und in die Schachtel hineinblickte.
Als Linas Schrei ihrer Kehle entwich, hatte der Mann das Zimmer bereits durchquert.
52.
Polizeipräsidium Hamburg, Donnerstag,
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