Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Albtraum leidet. Das will der Mörder, und deshalb hat er Erfolg… Er verwandelt seine Opfer in verängstigte Kinder.« Fabel blickte in Richtung der geschlossenen Tür. »Jedenfalls werden wir bald herausfinden, ob er die Wahrheitsagt, Anna. Darum versuch, ihm noch einiges mehr zu entlocken.«
Anna kehrte ins Vernehmungszimmer zurück, und Fabel machte sich zu seinem Büro in der Mordkommission auf. Irgendetwas wollte sich in seine Gedanken drängen, aber es befand sich knapp außerhalb seiner Reichweite.
Fabel setzte sich an seinen Schreibtisch. Er blickte schweigend durch das Fenster auf den Winterhuder Park. Unter ihm erstreckte sich Hamburg über den weiten Horizont. Fabel versuchte, das Gewirr der Details, die abertausend Worte, die er über den Fall gehört und gelesen hatte, die Schautafel und die Tatortfotos zu verdrängen. Er beobachtete, wie der blauweiße, seidene Himmel über die Stadt glitt. Irgendwo gab es den Schlüssel zur Wahrheit, der auf seine Entdeckung wartete. Etwas Einfaches. Etwas Reines, Kristallklares mit scharfen Umrissen.
Märchen. Alles drehte sich um Märchen und zwei Brüder, die sie gesammelt hatten. Zwei Brüder, die philologisches Forschungsmaterial zusammentrugen und nach der »wahren und ursprünglichen Stimme der deutschsprachigen Völker« suchten. Sie waren von der Liebe zur deutschen Sprache und dem innigen Wunsch getrieben worden, die mündliche Tradition am Leben zu erhalten. Vor allem aber waren sie Patrioten, Nationalisten. Sie machten sich zu einer Zeit auf ihre Suche, als Deutschland eine Idee, keine Nation war; als die napoleonischen Machthaber die örtlichen und regionalen Kulturen auslöschen wollten.
Aber die Grimms hatten ihre Richtung geändert. Nachdem die erste Sammlung von Erzählungen veröffentlicht worden war, hatten nicht die deutschen Hochschulen mit überwältigender Begeisterung reagiert und zahlreiche Exemplare des Werkes gekauft, sondern es waren die einfachen Bürger gewesen. Genau die Menschen, deren Stimme die Brüder hatten aufzeichnen wollen. Und vor allem waren es Kinder gewesen.Jacob, der Sucher nach der philologischen Wahrheit, hatte sich Wilhelm gefügt, und sie hatten die Geschichten für die zweite Ausgabe bereinigt und manchmal ausgeschmückt, bis sie doppelt so lang waren. So verschwand Hans Dumm, der Frauen schwängern konnte, indem er sie bloß anschaute. Die schwangere, doch naive Rapunzel fragte nicht mehr, weshalb ihre Kleidung ihr nicht passte. Dornröschen wurde nicht mehr in ihrem Zauberschlaf vergewaltigt. Und das liebliche Schneeweißchen, das am Ende des ursprünglichen Märchens zur Königin gekrönt wurde, befahl nicht mehr, dass ihre böse Stiefmutter gezwungen wurde, Schuhe aus glühendem Eisen anzuziehen und sich zu Tode zu tanzen.
Die Wahrheit. Die Brüder Grimm hatten die wahre Stimme der Deutschen gesucht und ihre eigene Pseudoliteratur geschaffen. Aber was war denn eine authentische deutsche Stimme? Wie Weiss unterstrichen hatte, hallten französische, italienische, skandinavische, slawische und andere Erzählungen in den Märchen und Sagen wider, die die Grimms gesammelt hatten. Was suchte der Mörder? Die Wahrheit? Oder wollte er die Dichtung zur Wahrheit machen wie Weiss’ ersonnener Jacob Grimm?
Fabel stand auf, trat ans Fenster und beobachtete die Wolken. Er begriff es nicht. Der Mörder versuchte nicht nur, mit Fabel zu reden, sondern er brüllte ihm ins Gesicht. Aber Fabel konnte ihn nicht hören.
Werner klopfte an die Tür und kam mit einem Ordner herein. Fabel bemerkte, dass er ein Paar Spurensicherungshandschuhe aus Latex trug, und warf einen fragenden Blick auf den Ordner.
»Außer dem Zeug, das du von Weiss bekommen hast, habe ich mich durch Säcke voll Fanpost von seinem Verlag gequält. Das Material, das der Verlag geschickt hat, reicht fast ein Jahr zurück, und ich bin nun bei den Briefen angekommen, die vor ungefähr sechs Monaten geschrieben wurden. Dabei bin ichauf allerlei Verrückte gestoßen, mit denen ich ganz gern mal plaudern würde«, sagte Werner. Er öffnete den Ordner und ergriff mit seinem in Latex gehüllten Zeigefinger und Daumen vorsichtig den Rand eines Blattes. »Dann habe ich das hier gefunden… « Er zog das Blatt aus dem Ordner.
Fabel starrte den Brief an, den Werner hochhielt. Es war ein gelbes Blatt Papier, bedeckt mit einer winzigen Schrift in roter Tinte.
Holger Brauner hatte bestätigt, dass das Papier identisch mit dem der kleinen, aus einer Seite geschnittenen
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