Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
gibt noch ein paar andere Dinge an diesem Herrn, die Sie vielleicht interessant finden werden.«
»Ach ja?« Fabel widerstand der Versuchung, Möller anzutreiben, und lächelte geduldig.
»Zum einen war Herr Ungerer vorzeitig ergraut und hat sein Haar dunkel gefärbt, ganz im Gegensatz zu unserem lieben Kanzler, versteht sich. Aber das, was ich unter seiner Kopfhaut fand, war noch faszinierender. Der Mörder hat das Lebenvon Herrn Ungerer nicht allzu sehr verkürzt, er ist dem Tod nur um ein paar Monate zuvorgekommen.«
»Ungerer war krank?«
»Todkrank. Aber es ist durchaus möglich, dass er nichts davon wusste. Er hatte ein großes Gliom im Zerebrum. Einen Hirntumor. Der Größe nach ist er schon seit einiger Zeit gewachsen, und die Lage lässt vermuten, dass die Symptome irreführend gewesen sein könnten.«
»Konnten Sie feststellen, ob er deshalb behandelt worden ist?«
»Nein, meines Wissens nicht. Es gab kein Anzeichen für eine Krebstherapie oder den Einsatz von Kortison, das in solchen Fällen gewöhnlich zum Abschwellen des Hirngewebes verschrieben wird. Vor allem aber deutet nichts auf einen chirurgischen Eingriff hin, und das ist der erste Schritt bei dieser Art von Tumor. Ich brauche eine vollständige Histologie für das Gliom, aber es sieht mir nicht nach einem Astrozytom, einer gutartigen Geschwulst, sondern nach einem aggressiven Primärtumor aus, der noch nicht metastasiert hat. Deshalb hat es in seinem Körper nirgendwo sonst einen Befund gegeben, der die Aufmerksamkeit eines Arztes erregt hätte. Meistens sind Hirntumore Metastasen von Primärtumoren an anderen Körperstellen, aber das scheint hier nicht der Fall gewesen zu sein. Und noch ein erschreckender Gedanke für Sie: Er war genau im richtigen Alter. Männer mittleren Alters bilden diese aggressiven Hirntumore am häufigsten aus.«
»Aber er muss doch Symptome gehabt haben – beispielsweise Kopfschmerzen?«
»Nicht unbedingt. Hirntumore können sich kaum ausdehnen. Sie liegen im einzigen Teil des Körpers, der völlig von Knochen umgeben ist, und während der Tumor wächst, verstärkt sich der Druck innerhalb des Schädels auf das gesunde Gewebe. Das kann schwere Kopfschmerzen verursachen, die manchmal schlimmer werden, wenn man sich hinlegt, abernicht immer. Wie gesagt, der Tumor von Herrn Ungerer wuchs zwar ziemlich schnell, aber er war so gelagert, dass sich die Hirnschädigung schleichend vollzog. Die Symptome können subtil gewesen sein.«
»Was heißt das?«
»Zum Beispiel können sie eine Änderung der Persönlichkeit bewirkt haben, des Verhaltens. Er könnte seinen Geruchssinn verloren oder vielleicht durchdringende Düfte gerochen haben, die gar nicht da waren. Er spürte möglicherweise ein Kribbeln an einer Körperseite, oder ihm war häufig übel. Ein verbreitetes Symptom ist auch ein plötzliches Erbrechen ohne vorherige Übelkeit.«
Fabel dachte über Möllers Worte nach. Er erinnerte sich an Marias Bericht über ihr Gespräch mit Frau Ungerer, die den Wandel der Persönlichkeit ihres Mannes beschrieben hatte. Sein sexuelles Verlangen sei unersättlich geworden; ein treuer, liebevoller Ehemann habe sich in einen lüsternen Wüstling und einen gewohnheitsmäßigen Ehebrecher verwandelt. Er sei zum »Blaubart« geworden. Als Fabel dies und Marias Schilderung des »verbotenen« Kellers und der Truhe darin gehört hatte, war das Blut in seinen Adern zu Eis gefroren. Eine weitere Märchenverbindung, abgesehen davon, dass »Blaubart« eine französische Geschichte von Perrault war. Aber sie hatte in »Fitchers Vogel« eine deutsche Entsprechung bei den Brüdern Grimm. Dieser Mörder kannte Ungerer. Oder wenigstens wusste er genug über ihn, um in ihm eine perfekte Wahl für seine wahnsinnige grimmsche Märchenthematik zu erkennen.
»Könnte die Krankheit im sexuellen Verhalten des Opfers zum Ausdruck gekommen sein?« Fabel skizzierte kurz Ungerers dramatischen Persönlichkeitswandel.
»Das ist möglich«, nickte Möller. »Wenn die Veränderung so radikal war, wie Sie es beschreiben, dann lag die Ursache dafür höchstwahrscheinlich im Tumor. Wir halten Sex für etwas Physisches, aber das stimmt nicht. Bei der Bestie Menschspielt sich alles hier oben ab.« Möller tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Wenn sich die Struktur oder die Chemie des Gehirns wandelt – und der Tumor des Opfers hat höchstwahrscheinlich beides beeinträchtigt –, kommt es zu allen möglichen Veränderungen der Persönlichkeit und
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