Jan Fabel 04 - Carneval
auswalzen.«
»Also hattet ihr die Möglichkeit, dass der Mörder ein Kannibale ist, schon vor mir erwogen?«
»Klar«, erwiderte Scholz. »Aber ich war mir nicht so sicher wie du. Ich dachte, das Gewicht des Fleisches könnte der entscheidende Punkt sein. A pound of flesh «, sagte Scholz mit einem schweren Akzent. Er hielt inne und betrachtete sein Bier. »Hältst du es für möglich, dass unser Mann von etwas anderem als sexuellem Kannibalismus motiviert wird? Weil an den Tatorten kein Sperma gefunden wurde.«
»Ein Fehlen von Sperma bedeutet nicht, dass es zu keiner Ejakulation kam. Es bedeutet nur, dass er darauf geachtet hat, keine forensischen Spuren zu hinterlassen. Oder vielleicht masturbiert er später, wenn er nicht mehr am Tatort ist. Aber nehmen wir einmal an, dass wir es nicht mit einem Fall von sexuellem Kannibalismus zu tun haben. Vielleicht gefällt ihm der Geschmack. Die Erfahrung, Menschenfleisch zu essen.«
»Was sollte ihm daran gefallen?«
»Tja, es gibt eine Theorie, dass die komplexen Proteine im Menschenfleisch manche, die es essen, in Hochstimmung versetzen. In eine Art Euphorie. Einige glauben, sie könnten daraus lebensspendende Stoffe beziehen, die anderes Fleisch nicht liefert. Aber ein natürliches Gebot spricht gegen den Kannibalismus. Bei Menschen wie bei Tieren kann er Prionenkrankheiten auslösen … Rinderwahn, Kuru und solche Dinge.«
»Könnte es sein, dass der Mörder einfach nur experimentiert? Dass er schlicht herausfinden wollte, wie es ist, Menschenfleisch zu essen?«
»Ich gönne mir hin und wieder ganz gern ein schönes Steak«, sagte Fabel. »Aber ich glaube nicht, dass ich auf eine Wiese gehen und eine Kuh schlachten könnte, um mir eines zu besorgen. Wir neigen dazu, eine moralische Distanz zu den Quellen unserer Nahrungsmittel herzustellen. Ein amerikanischer Journalist hat einen Angestellten eines Pariser Leichenschauhauses bestochen, um ein Stück frisches Menschenfleisch zu erhalten. Dann schrieb er über die Erfahrung, es zu braten und zu essen. Es schmeckte wie Kalbfleisch, meinte er. Jedenfalls wäre es ein gewaltiger Sprung, einen Mord – zwei Morde – zu begehen, nur um Genusssucht und Neugier zu befriedigen. Ich würde wetten, dass er durch die Morde irgendeine sexuelle Fantasie auslebt.«
Scholz sammelte die Pizzaschachteln ein. Während er in der Küche war, begutachtete Fabel die Wohnung des Kölner Oberkommissars. Sie hatte alle Merkmale einer Junggesellenbude, in der sich Praktisches und Schlampiges miteinander verbanden. Etliche Zimmerpflanzen in verschiedenen Stadien der Austrocknung waren über die Wohnung verstreut. Fabel musste der Versuchung widerstehen, um eine Gießkanne zu bitten. Die Bücherregale, obwohl vollgepackt, waren übersichtlich arrangiert. Scholz besaß eine beeindruckend große Auswahl an DVDs, die alphabetisch nach Titeln geordnet waren. Diese sorgfältige Organisation hob sich vom übrigen Chaos der Wohnung ab. An den Wänden hingen ein paar erstaunlich geschmackvolle Kunstdrucke sowie ein Poster von einer Kölner Macbeth -Aufführung. Fabel erinnerte sich an den Hinweis auf Shakespeare in Scholz’ Bericht. Benni kehrte mit zwei weiteren Kölsch zurück und machte auf dem Couchtisch Platz für die Akten.
»Hast du eine Schwäche für Shakespeare?«, fragte Fabel.
»Für manche Stücke. Aber nur auf Deutsch. Mein Englisch ist nicht gut genug. Ich liebe die Geschichte von Macbeth. Schon als Kind habe ich mir die synchronisierte Orson-Welles-Version angesehen. Ich war überwältigt von der Gestalt. So durch und durch böse und brutal. Für den Fall, mit dem wir uns jetzt beschäftigen, wäre allerdings Titus Andronicus geeigneter.«
Fabel nickte anerkennend. Scholz’ imponierende Shakespeare-Kenntnisse kontrastierten zu seiner Erscheinung und seinem Auftreten.
»Früher habe ich einmal daran gedacht, Schauspieler zu werden«, sagte Benni ein wenig verlegen. »Vielleicht wollte ich lieber andere Personen spielen, als ich selbst zu sein.«
»Es ist ein großer Sprung von der Bühne zur Polizei.«
»Aber es kam nie ernsthaft infrage«, erläuterte Scholz. »Mein Vater war Polizist und ein … na ja, praktischer Mann. Er hat die Sache abgewürgt, und ich fand mich bei der Polizei wieder.«
»Da hat das Theater Pech gehabt …« Fabel versuchte, das wenig überzeugende Bild von Scholz in der Rolle des Erzschurken Macbeth heraufzubeschwören. Plötzlich fiel ihm ein anderer Erzschurke ein, und er verspürte einen Druck im
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