Jan Fabel 04 - Carneval
keine Gäste auf der Treppe waren. »Ja, das war sie. Ich hatte sie schon vorher einmal gesehen. Wir unterstützen so etwas nicht, aber wir drücken ein Auge zu. Hier steigen allerlei Leute ab. Solange es keinen Ärger gibt und solange es privat und diskret bleibt, befassen wir uns nicht weiter damit, in welcher Beziehung unsere Gäste zu ihren Besuchern stehen.«
»Wer war mit ihr zusammen?«, fragte Fabel.
»Ein Mann von ungefähr fünfunddreißig. Gut gekleidet und gut aussehend. Auch sie trug modische Kleidung.« Er lachte leise. »Obwohl ich sagen muss, dass ich ihre Ausstattung für etwas unklug hielt.«
»In welcher Hinsicht?«, hakte Scholz nach.
»Tja, sie trug einen sehr engen Rock. Eine Art Bleistiftrock wie in den Fünfzigern. Er war für sie völlig ungeeignet.«
Scholz verzog ungeduldig das Gesicht.
»Sie hatte ein enormes Hinterteil. Gewaltig. Dabei war sie sonst sehr attraktiv. Aber sie schien die Aufmerksamkeit geradezu auf ihren Hintern lenken zu wollen. Deshalb fanden wir es so lustig, als sie später herausrannte und schrie, der Mann habe sie genau dort gebissen.«
»War es eine schlimme Wunde?«
»O ja … Eine Menge Blut ist geflossen, und eines unserer polnischen Mädchen, Marta, musste ihr helfen. Marta sagte, die gebissene Frau sei Ukrainerin, aber sie habe jedes polnische Wort von Marta verstanden. Anscheinend sind die Sprachen einander sehr ähnlich. Jedenfalls meinte Marta, es sei eine wirklich schlimme Wunde, und riet der Frau, sich im Krankenhaus behandeln zu lassen. Aber das wollte sie nicht.«
»Wo war der Mann, während all das vor sich ging?«, fragte Fabel.
»Sobald der Trubel begann, muss er seine Sachen geschnappt haben und abgehauen sein. Die Treppe hinunter. Den Lift hat er nicht benutzt. Ich ging sofort mit einem Mitarbeiter zu seinem Zimmer, aber er war schon verschwunden.«
»Und das Zimmer. Wer hat es bezahlt?«
»Der Mann. In bar. Angeblich hatte er sein Kreditkartenetui zu Hause vergessen. Gewöhnlich verlangen wir eine Kreditkarte, damit wir einen Anhaltspunkt haben, wenn nachträglich beispielsweise noch Getränke aus der Minibar entnommen werden, aber er gab uns stattdessen ein Pfand von hundert Euro.«
»Lassen Sie mich raten: Er hat das Pfand nicht abgeholt«, sagte Fabel.
Ankowitsch errötete. »Nein.« Das Geld war offenbar in die Tasche des Geschäftsführers gewandert.
»Wir müssen die Frau unbedingt finden«, betonte Scholz. »Sie war, wie Sie sagten, nicht das erste Mal hier?«
Ankowitsch schien sich unbehaglich zu fühlen. »Stimmt. Sie war schon einmal hier. Vielleicht zweimal.«
»Und der Mann?«
»Nein. Ihn hatte ich vorher noch nie gesehen.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie wir die Frau erreichen können?«, fragte Fabel.
Das Unbehagen des Geschäftsführers verstärkte sich. Er holte ein Telefonbuch unter dem Tresen hervor, blätterte darin und notierte ein paar Einzelheiten auf einem Schreibblock. Dann riss er das Blatt ab und hielt es Fabel hin.
Scholz nahm es ihm aus der Hand. »Vielen Dank für Ihre Kooperationsbereitschaft.«
»Ich glaube, Herr Ankowitsch hat selbst eine Vorliebe für große Hintern«, sagte Scholz auf dem Rückweg zum Auto. »Er war ziemlich sicher, für welche Agentur sie gearbeitet hat.«
Fabel lehnte sich auf dem Beifahrersitz von Scholz’ VW zurück und fühlte sich plötzlich sehr müde. Es war ein langer Tag gewesen, und er hatte wahrscheinlich mehr Kölsch getrunken, als ratsam gewesen wäre. Dankbar nahm er zur Kenntnis, dass Scholz untypisch schweigsam war, während er durch die Stadt fuhr. Fabel sah zu, wie das in der schwarzblauen Nacht funkelnde Köln vorbeiglitt. Dann merkte er, dass es länger als sonst dauerte, sein Hotel zu erreichen, und dass er die Gegend nicht wiedererkannte. Unvermittelt rollten sie auf die Gebäude am Fluss zu. Über ihnen ragten die Aufbauten von zwei mächtigen Häuserblocks, die wie übergroße Werftkräne geformt waren, empor. Scholz bremste scharf, stellte seinen VW auf einer Betonrampe ab, stieg aus, ließ den Schlag zuknallen und stakste an den Rand des Wassers, wo er von den Scheinwerfern des Autos beleuchtet wurde.
Fabel stieg ebenfalls aus und stellte sich neben Scholz. Einen Moment lang beobachteten die beiden Männer schweigend einen langen Lastkahn, der mit einer am Heck flatternden Fahne in der Dunkelheit vorbeizog.
»Verrätst du mir, was los ist?«, sagte Scholz ruhig, ohne die Augen von den Lastkähnen abzuwenden. »Ich überrasche dich und den Knaben vom
Weitere Kostenlose Bücher