Jan Fabel 04 - Carneval
die Kähne der Gegenwart führten eine Tradition fort, die fast so alt war wie die europäische Kultur.
Als Fabel das Präsidium betrat, lächelte der Beamte am Sicherheitsschalter und schickte ihn ohne Begleitung direkt nach oben. Es war ein seltsames Gefühl, sich in den Räumen einer anderen Mordkommission aufzuhalten, ohne als Besucher behandelt zu werden. Es war fast so, als ob er hier arbeitete. Dies ließ ihn an Wagners und van Heidens Angebot denken: Wäre die Situation so ähnlich, wenn sich seine Aufgaben auf die gesamte Bundesrepublik ausweiteten?
Tansu telefonierte gerade, als Fabel die Tür öffnete. Sie hatte ihre dichten kupferfarbenen Locken mit einer Spange am Hinterkopf zusammengesteckt, sodass die Kurve ihres Halses entblößt war. Tansu konnte nicht als besonders hübsch gelten, und ihre Figur war eher füllig, doch sie hatte etwas an sich, das Fabel unwillkürlich attraktiv fand. Sexy. Sie deutete mit dem Kopf auf Scholz’ Büro und bedeckte die Sprechmuschel des Telefons ein paar Sekunden lang.
»Er wartet auf Sie. Aber bleiben Sie bitte beide hier, bis ich Gelegenheit habe, mit Ihnen zu reden.«
»Einverstanden«, sagte Fabel.
Auch Scholz führte ein Telefongespräch, doch er lud Fabel mit einer Geste ein, Platz zu nehmen. Anscheinend ging es in dem Telefonat um den Karnevalswagen der Kölner Polizei, und Scholz schien mit den Fortschritten keineswegs zufrieden zu sein. Fabel war erstaunt darüber, dass dieses Thema – mehr als die zu untersuchenden Morde – Scholz so sehr auf die Palme brachte. Es war schwer, sich vorzustellen, dass er überhaupt durch etwas gestresst werden konnte.
»Morgen«, grüßte Scholz freudlos, nachdem er den Hörer niedergelegt hatte. »Bist du bereit, mit den Internet-Leuten zu reden?«
»Ja. Aber Tansu möchte vorher mit uns sprechen.«
Scholz zuckte die Achseln. »Übrigens sollten wir heute noch einen anderen Besuch machen. Ich habe ein paar Nachforschungen über die Hostessenagentur angestellt, die unser Kumpel im Hotel uns gestern genannt hat. Das dürfte dich sehr interessieren.«
»Ach ja?«
»Die Agentur À la Carte wird von einem gewissen Herrn Nielsen, einem Deutschen, geleitet. Tansu beschäftigt sich gerade mit seiner Vergangenheit. Aber die Eigentümer sind zwei Ukrainer namens Klimkow und Lyssenko. Keine Vorstrafen, doch sie werden verdächtigt, intensive Beziehungen zum organisierten Verbrechertum zu unterhalten, besonders zum Menschenschmuggel. Du brauchst also nicht dreimal zu raten, für wen Klimkow und Lyssenko nach Ansicht unserer zuständigen Abteilung arbeiten?«
»Für Witrenko.«
»Genau. Die Jungs von unserer Organisierten Kriminalität wollen, dass wir äußerst behutsam vorgehen.«
»Du hast mit ihnen gesprochen? Darf ich annehmen, dass du Maria Klee nicht erwähnt hast?«
»Vorläufig nicht. Und es handelt sich nur um unsere Abteilung. Beim Bundeskriminalamt weiß man nicht, dass wir mit Nielsen reden wollen. Aber es gibt ein Limit dafür, wie lange ich den Mund halten kann. Allem Anschein nach arbeitet À la Carte legal, und die Mädchen zahlen ihre Steuern. Oder wenigstens diejenigen, die offiziell bei der Agentur angestellt sind. – Der Handel mit Menschenfleisch wurde als Erstes in Köln für steuerpflichtig erklärt, wie du wahrscheinlich weißt.«
Fabel nickte. Köln war die erste deutsche Stadt gewesen, die eine Einkommenssteuer für Sexarbeiter eingeführt hatte.
»Wir sind ziemlich stolz auf unsere Pionierrolle bei der Sexsteuer. Am Anfang ließ sich unmöglich schätzen, wie viel genau eine Prostituierte verdient. Ich meine, kannst du dir ein Steuerformular vorstellen, auf dem angegeben wird, wie viele Blowjobs zu welchem Preis im letzten Steuerjahr durchgeführt worden sind? Beim Finanzamt hat man eine Einkommensspanne und dann einen Durchschnitt berechnet. Deshalb muss jede Prostituierte nun eine Abgabe von 150 Euro pro Monat zahlen. Obwohl viele Einnahmen unerklärt bleiben, sahnt Köln ganz schön ab. Worüber ich seit Langem nachdenke: Wird unser Bürgermeister dadurch zum Zuhälter?«
Scholz’ Überlegungen wurden unterbrochen, denn Tansu betrat das Büro.
»Es war ziemlich schwierig, aber endlich habe ich etwas über Vera Reinartz rausgekriegt, die Medizinstudentin, die 1999 vergewaltigt wurde.«
»Sie haben sie ausfindig gemacht?«, fragte Fabel.
»Ja … oder, genau genommen, nein, nicht Vera Reinartz. Aber ich weiß jetzt, warum wir bei der Suche im amtlichen Melderegister nichts gefunden
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