Jan Fabel 04 - Carneval
dagewesenes Tief erreicht hatte. Der Preis war für das Gehalt eines Leitenden Hauptkommissars trotzdem eine starke Belastung gewesen, doch er hatte den Kauf nicht bereut. Allerdings war es unzweifelhaft eine Wohnung für eine Einzelperson – sein persönlicher und ungeteilter Freiraum. Nun wurde sein Berufswechsel von einer weiteren Veränderung begleitet. Susanne und er hatten beschlossen, ihre jeweilige Wohnung zu verkaufen, etwas Neues zu suchen und zusammenzuziehen. Eine weitere Entscheidung, die zuerst so plausibel zu sein schien, doch nun Bedenken bei ihm auslöste.
Fabel betrachtete das Flimmern von Autoscheinwerfern an der Schönen Aussicht am gegenüberliegenden Alsterufer. Er dachte an sein Essen mit Bartz. An seine Zukunft. An die Akte, die er auf den Couchtisch hatte fallen lassen, doch die das Zimmer mit ihrer Präsenz erfüllte. Wenn ich sie aufhebe, dachte er, werde ich wieder in alles hineingezogen werden. Lass sie. Lass sie liegen.
Susanne betrat das Zimmer, und Fabel schob eine Hamburger Morgenpost über die Akte. Er drehte sich um und sah sie an. Susanne war wunderschön. Klug. Sexy. Ihr langes, dichtes Haar war feucht und hing in schimmernden schwarzen Locken über die Schultern ihres weißen Bademantels. Sie setzte sich aufs Sofa, und er reichte ihr ein Glas Wein.
»Müde?«, fragte er und ließ sich neben ihr auf dem Sofa nieder.
»Nein. Eigentlich nicht.«
»Hungrig?«
»O ja«, sagte sie und zog ihn an sich, wobei ihr Bademantel auseinanderklaffte.
4.
Timo hatte das Buch in einem Müllcontainer nahe der Universität gefunden. Hinter einem Haus, das renoviert wurde. Es war ein akademisches Werk, ein altes Exemplar, und sein Einband fühlte sich unter Timos Fingerspitzen noch immer körnig vom Müll an, aber es glich einem, das er früher besessen hatte. Wie so viele seiner Habseligkeiten hatte er es verkauft. Zum ersten Mal hatte er es gelesen, während er noch Soziologie an der Universität Hamburg studierte. Es war Emile Durkheims Regeln der soziologischen Methode , eine Abhandlung über gesellschaftliche Ordnung und die Notwendigkeit, das Verhalten durch Strukturen und Formgebung zu lenken. Durkheim galt als Vater der Soziologie, doch Timo dachte ironisch, wie viel angemessener es in seiner jetzigen Lage gewesen wäre, wenn er eines von Durkheims späteren Werken über die Normalität des Verbrechens gefunden hätte.
Timo zitterte in seiner zu dünnen Jacke, lehnte sich an die Wand und blickte zu dem Laden hinüber. Es wurde dunkel, und die Lichter in dem Geschäft gingen an, sodass die Schaufenster an diesem Januarabend warm zu glimmen schienen. Timo versuchte, eine weitere Seite zu lesen, doch das Licht war zu schwach geworden. Er seufzte. Das Buch, ein Stück seiner Vergangenheit, war unerwartet und ungebeten in seiner Gegenwart erschienen. Es schmerzte ihn, den Band zu betrachten: die Erinnerung an eine Zeit, als er noch Hoffnung gehabt hatte, als sein Geist scharf und klar und systematisch gewesen war. An eine verflossene Zeit. Als sollte er in die Realität seines gegenwärtigen Lebens zurückgerufen werden, verstärkte sich das Bohren in seinen Eingeweiden, und das Beben, unter dem sich sein Körper zusammenkrümmte, wurde nicht allein durch die kalte Abendluft bewirkt. Timo schloss das Buch. Er konnte es nicht mitnehmen, doch er wollte es auch nicht zurücklassen. Er wollte seine Vergangenheit nicht zurücklassen.
Max Weber, Ferdinand Tönnies und Emile Durkheim hatten im Mittelpunkt von Timos Studium gestanden. Max Webers Gewaltmonopol des Staates war die Grundlage für seine Dissertation gewesen. Oder wenigstens für die Dissertation, die er angefangen hatte.
In dem Laden waren zu viele Käufer. Er musste warten. Die Kälte schien sein Fleisch zu durchdringen und seine Knochen abzukühlen. Webers Hypothese lautete, dass nur die Staatsorgane, also die Polizei und die Armee, physische Gewalt anwenden sollten, sonst werde der Staat zerfallen und Anarchie herrschen. Timo hatte geplant, in seiner Dissertation auszuführen, dass ein solches Monopol, wie im Fall der Nationalsozialisten, ebenfalls schädlich für den Staat sein könne.
Ein Mann im Straßenanzug sprach in sein Handy und verließ, gefolgt von einem älteren Paar, das Geschäft. Der Schmerz und das Verlangen in Timos Innerem wurden heftiger. Er steckte seine Hand in die Jackentasche und schloss die Finger um den kühlen, harten Stahl.
Timo hatte seine Argumentation in der Doktorarbeit durch eine Erörterung
Weitere Kostenlose Bücher