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Jan Fabel 04 - Carneval

Titel: Jan Fabel 04 - Carneval Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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über die Vereinigten Staaten untermauern wollen, wo die Verfassung den Bürgern ausdrücklich das Recht zum Waffentragen und damit die Möglichkeit der Ausübung unabhängiger physischer Gewalt gewährte. Folglich wurde dem Staat das Gewaltmonopol vorenthalten. Doch die USA existierten und blühten als Nation.
    Er spähte über die Straße hinweg. Ein Auto hielt an, und eine Frau lief in den Laden. Kurz danach tauchte sie mit einer Tragetasche wieder auf und fuhr davon. Timo verspürte ein Stechen, das nicht von der Gier seines Körpers ausging, sondern von dem Kummer, der Trauer um sein früheres Ich: um den disziplinierten, scharfsichtigen, tüchtigen Studenten, dem die Welt zu Füßen lag. Aber das war damals gewesen. Vor den Drogen.
    Timo trat aus dem Schatten der Ecke hinaus. Seine schmächtigen Schultern waren von der Kälte gebeugt, und er überquerte die Straße zu dem Geschäft. Seine Finger schlossen sich erneut um die Waffe in seiner Tasche.
    5.

    Nachdem sich Fabel und Susanne geliebt hatten, machten sie es sich in seinem Wohnzimmer bequem und schauten über das dunkle Wasser der Alster und die darauf glitzernden Spiegelbilder hinweg. Susanne legte den Kopf an Fabels Schulter, und er gab sich alle Mühe zu verbergen, dass er ihrer Anwesenheit überdrüssig war. Das Gefühl überraschte ihn. Er war unruhig und gereizt und verspürte einen Moment lang den fast unwiderstehlichen Drang, sich in sein Auto zu setzen und aus der Stadt, aus Hamburg, aus Deutschland hinauszufahren. Diese Empfindung war ihm nicht neu, doch er hatte sie stets auf seine Arbeit zurückgeführt, auf den Impuls, das Grauen und den Stress so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Aber war ihm nicht genau das gelungen? Nur noch ein paar Wochen, und seine Flucht würde abgeschlossen sein. Warum also war er von einer solchen Panik erfüllt? Und warum konnte er, obwohl er sich auf ein Leben ohne Morde freuen sollte, dem Reiz der Akte, die er halb unter dem Exemplar der Morgenpost versteckt hatte, nicht widerstehen?
    »Wie war das Essen mit Roland?«, fragte Susanne.
    »Wortreich. Bartz hört sich gern reden. Ich weiß nicht, ob er genauso gern zuhört, aber jedenfalls schwätzt er wie ein Wasserfall.«
    »Ich dachte, du magst ihn.« Susannes Stimme klang ein wenig genervt. Fabel hatte gelernt, vorsichtig zu sein, wenn er mit ihr über seinen neuen Beruf sprach. In letzter Zeit hatte jeder Mangel an Überzeugung in seinem Tonfall genügt, einen Streit auszulösen.
    »Natürlich mag ich ihn. Ich meine, ich mochte ihn als Jungen. Aber Menschen ändern sich. Roland Bartz ist heute ein ganz anderer Mensch. Er ist in Ordnung, nur ein bisschen aufgeblasen.«
    »Er ist Unternehmer. Das gehört bei solchen Leuten dazu«, sagte Susanne. »Seine Firma wäre nicht so erfolgreich – und er könnte dir kein so hohes Gehalt anbieten –, wenn er von Selbstzweifeln geplagt wäre. Aber egal, du brauchst von dem Mann nicht begeistert zu sein, um mit ihm zusammenzuarbeiten.«
    »Es ist alles in Ordnung«, versicherte Fabel, »wirklich. Und mach dir keine Sorgen, ich bin entschlossen, die Polizei Hamburg zu verlassen. Mir reicht’s.« Er nahm einen großen Schluck Pinot Grigio, lehnte sich im Sofa zurück und schloss die Augen. Das Bild des traurigen, verzweifelten, wahnsinnigen Georg Aichinger breitete sich in seiner Vorstellung aus. Das gleiche Bild hatte ihn während des Essens mit Bartz verfolgt.
    »Was ist los?«, fragte Susanne auf sein Seufzen hin.
    »Ich kann nicht aufhören, an Aichinger zu denken. An all den Blödsinn, über den er geredet hat, bevor er sich erschoss; dass er sich beim Aufwachen fühlte, als wäre er nicht real. Was zum Teufel war mit ihm los?«
    »Depersonalisation. Wir alle sind ihr bis zu einem gewissen Grade ausgesetzt. Hauptsächlich entsteht sie durch Stress und Übermüdung. Möglicherweise hat Aichinger etwas Ergreifenderes durchgemacht. Vielleicht eine ausgewachsene dissoziative Fuge.«
    »Ich dachte, der Begriff bezeichnet einen Gedächtnisverlust. Man wacht in einer neuen Stadt mit einer neuen Identität oder mit überhaupt keiner Identität auf.«
    »Das ist in manchen Fällen so. Menschen, die ein schweres Trauma durchmachen, können unter einer dissoziativen Fuge leiden. Um die belastenden Dinge zu vergessen, geben sie ihr gesamtes Gedächtnis auf. Ohne Gedächtnis weiß man nicht, wer man ist. Man legt sich eine neue Identität ohne die Biografie seiner realen Identität zu.«
    »Aber Aichinger hatte sein

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