Jan Fabel 04 - Carneval
Gedächtnis nicht verloren.«
»Nein. Aber wenn er sich nicht umgebracht hätte, wäre er vielleicht durch die Tür hinausgegangen und verschwunden. Nicht nur aus der Welt, sondern aus seiner eigenen Persönlichkeit.«
»Gott weiß, es gibt Zeiten, in denen ich mir ebenfalls wünsche, aus mir selbst verschwinden zu können. Zum Beispiel als ich vor Aichinger stand und er sich das Gehirn aus dem Kopf geblasen hat.« Fabel lächelte bitter.
»Na ja, du tust es in gewisser Weise. Sobald du das Präsidium zum letzten Mal verlässt und dich von der Polizeiarbeit trennst.«
»Richtig …« Er nippte am Wein. »Und wenn ich Leuten wie Breidenbach alles überlasse.«
»Wem?«
»Der neuen Generation.« Fabel hob erneut sein Glas.
6.
Stefan hielt an der Tankstelle. Noch vor einer Stunde war er im Dienst gewesen. Nun fühlte er sich gut. Er war frisch rasiert, hatte geduscht, trug ein neues Hemd und hatte sich mit seinem besten Kölnischwasser eingerieben. Er hatte Lisa angerufen und vereinbart, bei ihr zu übernachten. Dies war die seines Wissens einzige, so spät noch geöffnete Einkaufsmöglichkeit, und die Tankstelle hatte immer ein gutes Weinangebot.
Er war nun seit zwei Monaten mit Lisa zusammen. Sie war ein tolles Mädchen. Humorvoll, clever und auch noch hübsch. Die beiden trafen sich unregelmäßig, und Stefan fühlte sich in ihrer Gesellschaft wohl, doch er hatte den Eindruck, dass Lisa eine verbindlichere Beziehung vorschwebte. Das entsprach nicht seinen Wünschen, oder jedenfalls glaubte er, dass es nicht seinen Wünschen entsprach. Er war zufrieden mit der Situation und nicht bereit, sich auf eine ernste Verbindung einzulassen. Andererseits kam ihm der Gedanke manchmal gar nicht so abschreckend vor. Tatsache war jedoch, dass sich Stefan zurzeit in erster Linie um seine Karriere kümmern musste. Er hatte versucht, Lisa zu erklären, wie wichtig sein Beruf für ihn war. In zwei Monaten stand ihm die Aufnahmeprüfung für den Kommissarlehrgang bevor, und er musste den Kopf in die Bücher stecken. Aber nicht heute Abend. Heute würde er Spaß haben, sobald er den Wein besorgt hatte.
Als Stefan eintrat, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte.
Das Türklingeln zog die Aufmerksamkeit der beiden Männer auf sich, die sich als Einzige in dem Laden befanden. Ein dünner Mann mit langem, strähnigem Haar stand vor dem Tresen, und der Türke mittleren Alters, der die Tankstelle betrieb, dahinter. Beide waren still. Zu still, zu angespannt. Plötzlich drehte sich der junge Mann um. Stefan konnte die Furcht in seinen Augen erkennen, als er seine Waffe ruckartig auf ihn richtete. Der MEK-Beamte spreizte die Arme.
»Ganz ruhig …«, sagte er. Wie er es in seiner Ausbildung gelernt hatte, machte Stefan schnell eine Gefahrenanalyse. Er nahm in kürzester Zeit so viel wie möglich in sich auf. Die Pistole war eine uralte Walther P8. Nein, der Lauf war zu kurz für eine P8 – es war eine P4, wie sie die Hamburger Polizei nach dem Krieg benutzt hatte. Sie sah schlecht gepflegt aus, und Stefan war sich nicht sicher, ob sie überhaupt funktionieren würde. »Ruhig bleiben«, sagte er und begriff, dass der junge Mann mit den wilden Augen und den ungewaschenen Haaren verängstigter war als die beiden anderen Anwesenden. Stefan dachte daran, wie Hauptkommissar Fabel die Situation in der Jenfelderstraße bewältigt hatte. »Nur keine Aufregung.« Stefan sah, dass der Arm des Bewaffneten bebte. Die roten Augenränder. Ein Junkie. Verzweifelt. Erschreckt. Aus seiner Ausbildung wusste Stefan, dass ein verängstigter Mann mit einer Waffe erheblich gefährlicher ist als ein zorniger Mann mit einer Waffe. Er versuchte sich auszurechnen, welche Chancen er hatte, dass die Pistole versagen oder der Junkie sein Ziel verfehlen würde.
»Bleib, wo du bist!«, schrie der Junkie.
»Ich bewege mich nicht«, erwiderte Stefan besänftigend.
»Du …«, rief der Junkie zu dem türkischen Ladeninhaber hinüber. »Füll eine Tragetasche mit dem Geld aus der Kasse.«
Der Türke tauschte einen Blick mit Stefan aus. Er hatte ihn viele Male bedient und wusste, dass sein Kunde Polizist war. Der Türke nahm sämtliche Scheine aus der Kasse und legte sie in eine Plastiktüte. Der Junkie streckte seine freie Hand aus und richtete die Waffe weiterhin auf Stefan.
»Okay. Aus dem Weg. Ich verschwinde.« Der Junkie verlieh seinen Worten so viel Autorität wie möglich.
»Das kann ich nicht zulassen«, sagte Stefan ruhig.
»Was zum Teufel meinst
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