Jan Fabel 04 - Carneval
du? Verpiss dich.«
»Das kann ich nicht«, erklärte Stefan. »Ich bin Polizeibeamter. Das Geld ist mir egal. Und es interessiert mich auch nicht, ob Sie abhauen. Aber ich werde Sie nicht mit der Pistole verschwinden lassen. Sie sind eine Gefahr für die Allgemeinheit.«
»Ein Bulle?« Der Junkie schien noch nervöser zu werden und zitterte heftiger. »Ein Scheißbulle?« Er richtete seine Waffe plötzlich nicht mehr auf Stefan, sondern auf den türkischen Ladenbesitzer. »Was ist mit diesem Mitglied der Allgemeinheit? Was ist, wenn ich ihn umlege, weil du Drecksack mir nicht aus dem Weg gehst?«
Stefan betrachtete den Türken. Der Mann hatte die Hände gehoben, doch er schien seine Furcht besser unter Kontrolle zu haben als der Räuber.
»Dann würden Sie mir bestätigen, dass ich Sie nicht laufen lassen kann. Und ich müsste Sie ausschalten.«
»Womit denn? Du hast keine Waffe.«
»Glauben Sie mir.« Stefans Tonfall war weiterhin ruhig. »Wenn Sie den Abzug durchdrücken, ist es das Letzte, was Sie tun. Ich bin Waffenexperte und kenne die Pistole, die Sie in der Hand halten. Ich weiß, wann und wo sie hergestellt worden ist. Ihr Verhalten zeigt mir, dass Sie keine Ahnung haben, wie man mit der Waffe umgeht. Und ich weiß, dass Sie uns nicht beide erwischen können, bevor ich Sie erreiche und Ihnen das Genick breche. Aber dazu braucht es nicht zu kommen. Legen Sie die Pistole hin. Es gibt einen Ausweg.«
»Wirklich? Wohl die Wiederherstellung des Gewaltmonopols?«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Aus dem Weg!« Der Junkie richtete die Pistole erneut auf Stefan. »Warum tust du das? Warum machst du dich nicht aus dem Staub? Nur dies eine Mal.«
»Weil es mein Beruf ist. Los, geben Sie mir die Pistole.« Stefan machte einen Schritt nach vorn. »Lassen Sie uns die Sache beenden.«
»In Ordnung …« Die Miene des Räubers schien leer zu werden.
Stefan lachte leise. Er hatte sich geirrt. Die Waffe war alt und lange nicht gereinigt worden. Doch sie versagte nicht. Und der Junkie war entweder ein besserer Schütze, als Stefan vermutet hatte, oder er hatte einfach Glück. Der Schuss hallte immer noch in der Enge des Ladens wider, als Stefan auf sein neues Hemd hinunterschaute. Auf das Loch darin. Auf den sich ausbreitenden Fleck, während sein Blut in den Stoff sickerte. Ein fast perfekter Schuss. Genau in die Zentralmasse. Stefans Beine gaben unter ihm nach, und er sank auf die Knie.
»Warum konntest du mir nicht aus dem Weg gehen?« Die Stimme des Junkies war gleichermaßen von Panik und Hass erfüllt.
Stefan blickte zu dem Junkie hoch und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sein Atem reichte nicht.
»Warum?«, wiederholte der Junkie traurig und feuerte erneut. Und wieder. Und wieder.
7.
Einmal mehr träumte Fabel von den Toten. Diese Träume hatte er während seiner gesamten Laufbahn gehabt. Er hatte sich damit abgefunden, dass das plötzliche Erwachen, das Pochen des Pulses in seinen Ohren und der nächtliche kalte Schweiß zu einem Teil seines Lebens geworden waren. Die Träume waren unzweifelhaft die Folge zahlreicher zusätzlicher Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, und der damit verbundenen Gefühle. Er hatte gelernt, sie zu unterdrücken, während er sich mit der Brutalität der Mörder und vor allem mit dem Schmerz und Leid ihrer Opfer beschäftigte.
An jedem Mordschauplatz achtete er auf den Ablauf. Auf die gewöhnlich in Blut geschriebene Geschichte jener letzten rasenden, furchtbaren Momente. Er musste an das Zitat denken, dass jeder für sich allein stirbt; dass der Tod selbst dann einsam ist, wenn wir diese Welt von Menschen umringt verlassen. Fabel glaubte nicht daran. Das zentrale Element jeden Mordes, das sich in sein Gehirn eingrub und dort böswillig bis zum Beginn seiner Träume lauerte, war stets die Grausamkeit des Umstands gewesen, dass ein Mordopfer seine letzten, intimsten Augenblicke zusammen mit dem Täter verbringen musste. Fabel hatte sich einmal versucht gefühlt, die Faust in das grinsende Gesicht eines Mordverdächtigen zu schmettern, als dieser damit prahlte, wie sein Opfer – sie lag durch seine Stichwunden im Sterben – nach seiner Hand gegriffen hatte, da sie keinen anderen menschlichen Trost suchen konnte. Der Dreckskerl hatte sogar gelacht, während er darüber sprach. Und Fabel hatte in der darauf folgenden Nacht von dem Opfer geträumt.
Nun träumte Fabel, dass er vor einem riesigen Gebäude wartete. Aus irgendeinem Grund hielt er es
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