Jan Fabel 04 - Carneval
für möglich, dass er sich vor dem Hamburger Rathaus befand. Er wusste, dass man ihn absichtlich warten ließ und ihn bald eintreten lassen würde. Die schweren Türen wurden von zwei gesichtslosen Bediensteten aufgeschwenkt, und er schritt in einen mächtigen Bankettsaal. Die Tafel dehnte sich zu einer unmöglichen Länge und war von Gästen gesäumt, die bei seinem Eintritt aufstanden und jubelten. Am fernen Ende der Tafel war ein Platz für ihn reserviert, und als er an den anderen Gästen vorbeiging, erkannte er fast jeden.
Fabel verspürte eine vage Überraschung darüber, dass auch sie ihn erkannten, denn natürlich waren alle bereits tot gewesen, bevor er ihnen begegnet war. Er schritt an den applaudierenden Opfern vorbei, in deren Mordfällen er ermittelt hatte, und nahm am Ende des Tisches Platz. An der einen Seite neben ihm saß Ursula Kastner, die vier Jahre zuvor ermordet worden und schon in früheren Träumen aufgetaucht war. Sie lächelte mit bleichen, blutlosen Lippen.
»Welchen Zweck hat dieses Fest?«, fragte Fabel.
»Es ist Ihr Abschiedsessen«, antwortete sie immer noch lächelnd, doch sie griff zu ihrer Serviette, um einen dicken Blutstropfen von ihrem Mundwinkel zu tupfen. »Sie verlassen uns doch, nicht wahr? Deshalb möchten wir uns verabschieden.«
Fabel nickte. Er bemerkte, dass der Stuhl an seiner anderen Seite leer war, doch er wusste, dass dort Hanna Dorn, seine ermordete Freundin aus Studententagen, sitzen würde. Nun wandte er sich wieder Ursula Kastner zu.
»Ich habe mein Versprechen gehalten«, sagte er, »und ihn geschnappt.«
»Das stimmt«, bestätigte sie. »Aber nicht den anderen.«
Er drehte sich um, denn jemand hatte sich auf den leeren Stuhl gesetzt. Durch den Traum gedämpft, war Fabels Schock darüber, dass nicht Hanna Dorn, sondern Maria Klee neben ihm Platz genommen hatte, nur milde. Ihr Gesicht war abgehärmt und blass.
»Was machst du denn hier? Du hast hier nichts zu suchen«, protestierte er. »Die hier sind alle …«
»Ich weiß, Jan … aber ich bin eingeladen worden.«
Sie wollte noch etwas hinzufügen, als ein weiterer hohler Jubelruf von den Versammelten aufstieg. Der Koch war eingetreten. Er trug eine silberne Servierplatte mit einem gewaltigen Silberdeckel. Das Gesicht des Kochs war verdeckt, doch er war ein massiger Mann, und die Muskeln an seinen kräftigen Armen wölbten sich. Trotzdem war es nur die exzentrische Physik von Fabels Traum, die es dem Koch ermöglichte, die Platte zu tragen.
Der Koch stellte die Platte auf die Mitte der Tafel und hob den kuppelförmigen Deckel. Fabel sah ein Blitzen leuchtender smaragdgrüner Augen und wusste, dass der Koch Wassil Witrenko war. Maria schrie auf. Fabel meinte, Ursula Kastner neben sich flüstern zu hören: »Er ist der andere.«
Wie hypnotisiert starrte er auf die Leiche einer jungen Frau. Sie lag rücklings auf der Platte. Ihr Brustkasten war aufgerissen, und man sah das entblößte Gewirr ihrer Rippen. Ihre Lunge war aus der Körperhülle gezogen und über ihre Schultern geworfen worden. Die Schwingen des Blutadlers. Das uralte Opferritual der Wikinger, das Witrenko zu seinem Markenzeichen gemacht hatte. Wie Maria schrie nun Fabel vor Entsetzen, doch gleichzeitig applaudierte er mit den anderen Gästen. Maria wandte sich zu ihm.
»Ich wusste, dass er kommen würde«, sagte sie, nachdem sie ihren Schrei plötzlich beendet hatte. »Wir haben so lange auf ihn gewartet. Aber ich wusste, dass er sich von dir verabschieden will.«
Witrenko ging auf Maria zu. Er streckte die Hand aus, als wolle er sie zum Tanzen auffordern. Fabel drängte es, aufzuspringen, um zu protestieren und Maria zu verteidigen, doch er stellte fest, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Hilflos sah er zu, wie Witrenko Maria in einen schattigen Teil des Saales führte. Die Frau neben Ursula Kastner beugte sich nieder, um etwas unter dem Tisch zu suchen. Mit gerunzelter Stirn setzte sie sich auf.
»Haben Sie etwas verloren?«, fragte Fabel. Er erkannte die Frau. Es war Ingrid Fischmann, die Journalistin, die ein Jahr zuvor durch eine Bombe getötet worden war. Sie lachte und setzte ein »Wie-dumm-von-mir«-Gesicht auf.
»Mein Fuß …«, sagte sie. »Vor einer Minute hatte ich ihn noch …«
Fabel wachte auf.
Er lag in der Dunkelheit und starrte an die Decke. Dann verschob er die Beine unter dem Laken, nur um zu beweisen, dass er sie noch bewegen konnte. Er hörte Susanne langsam und regelmäßig in ihrem traumlosen Schlaf
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