Jan Fabel 04 - Carneval
atmen. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei. Eine Gruppe von Personen tauschte lärmende Abschiedsgrüße aus. Er schwang die Beine herum und setzte sich auf den Bettrand – ganz langsam, um Susanne nicht zu wecken. Seine Füße streiften etwas. Er schaute hinunter und sah ein weiteres Paar Füße. In schwarzen Stiefeln. Riesig. Er hob den Kopf und erkannte Wassil Witrenko, der vor ihm stand und dessen smaragdgrüne Augen funkelten.
»Guck mal, was ich gefunden habe«, sagte Witrenko und hielt ihm den verstümmelten Fuß einer Frau hin.
Fabel erwachte. Er setzte sich kerzengerade hin, und sein Gesicht, seine Brust und seine Schultern waren feuchtkalt vor Schweiß. Sein Herz hämmerte. Er brauchte eine Weile, um sich zu überzeugen, dass er diesmal wirklich wach war. Susanne stöhnte und drehte sich im Bett um, schlief jedoch weiter.
Fabel blieb lange still sitzen, doch als er den Kopf zurück auf das Kissen legte, konnte er nicht wieder in den Schlaf sinken. So viele Dinge gingen ihm durch den Kopf, dass er nicht wusste, was den Schlummer von seinem ermüdeten Gehirn fernhielt. Er ließ Susanne im Bett zurück, tappte in die Küche und kochte sich eine Tasse Friesentee. Dann ging er mit der Tasse ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa.
Sobald er aufgestanden war, hatte er gewusst, dass er die Akte lesen würde. Er hatte es den ganzen Abend hindurch gewusst, sich jedoch eingebildet, dass er sie liegen lassen konnte. Aber nun nahm er sie auf und begann mit der Lektüre.
8.
Oliver liebte die Nacht. Die stille Einsamkeit. Das jenseits seines Panoramafensters glitzernde Köln. Er lauschte dem ein wenig melancholischen Jazz, der aus der teuren Bang&Olufsen-Anlage erklang, lehnte sich in das weiche italienische Leder seines Sessels zurück und trank seinen Scotch mit Soda, wobei das Eis im Kristallglas klirrte. Zu dieser Nachtzeit konnte er sein Leben eingehend betrachten: ein erfolgreiches Leben; ein Leben, das ganz zu Recht den Neid anderer heraufbeschwor; ein Leben, das sich in den Designermöbeln und den Originalkunstwerken, dem zwanzig Jahre alten Maltwhisky und der teuren Architektur ausdrückte, die ihn umgab. Oliver fühlte sich wohl in seiner Haut. Er hatte keine Probleme damit, wer oder was er war.
Seine Füße ruhten auf dem Couchtisch, und auf seinem Schoß lag ein Laptop. Er rieb sich mit den Handballen heftig die Augen. Nun reichte es: Er hatte drei Stunden auf der Anthropophagi-Website verbracht. In einer anderen Welt. Auf seine Kontaktanzeige hatte er mehrere Antworten erhalten, und er hatte seinerseits darauf geantwortet, ohne sich jedoch auf irgendetwas festzulegen.
Zweifellos war das, was er tat, riskant. Bisher hatte er seine kleine Schwäche stets mit Prostituierten ausgelebt. Erst vor Kurzem hatte er daran gedacht, eine Freiwillige zu suchen, die seinen Wünschen ohne Bezahlung nachkam. Doch er zögerte, eine konkrete Verabredung zu treffen oder auch nur den nächsten Schritt einzuleiten. Dort draußen in der realen Welt konnte er seine Spuren verwischen. Er hatte nie dieselbe Hostessenagentur und dasselbe Hotel zweimal benutzt, geschweige denn unter seinem eigenen Namen. Hier im Internet war er fleischlos geblieben, so unwirklich wie ein Gespenst. Aber durch die Anzeige hatten sich die Dinge geändert. Paradoxerweise war er in einem Universum der Codes, in der Fleisch aus Pixeln mit hoher Auflösung bestand, leichter auffindbar geworden. Er musste vorsichtiger agieren.
Der Besuch der Site hatte dennoch seinen Zweck erfüllt. Oliver betrachtete ihn als Hors d’oeuvre. Als elektronischen Appetitanreger für das Hauptgericht. Für das, worauf es ankam.
Morgen Abend. Er hatte alles für Freitagabend arrangiert. Vielleicht war dies eine Agentur, an die er sich auch später wenden konnte. Schließlich klang der Firmenname wie ein gutes Omen. Was hätte passender sein können als eine Agentur, die À la Carte hieß?
9.
Fabel fiel sofort auf, dass die Akte nicht nur bereits begangene Morde betraf, sondern auch einen, den man erst noch erwartete. Das galt natürlich für jeden mutmaßlichen Serienmörder, aber in diesem Fall rechnete die Kölner Polizei nicht nur mit einer weiteren Tat, sondern sie wusste recht genau, an welchem Tag das Verbrechen voraussichtlich stattfinden würde.
Der bedeutendste Brauch in Köln war der Karneval, die überschäumende Feier, die jedes Jahr vor der Fastenzeit stattfand. Fabel als protestantischem Norddeutschen war der Karneval fremd. Gewiss, er hatte eine
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