Jan Fabel 04 - Carneval
du verhältst dich seltsam mir gegenüber. Abweisend.«
»Das ist Unsinn.«
»Tatsächlich?« Sie deutete auf das Aktenmaterial. »Und was hat es damit auf sich? Ist es Unsinn, dass du einen neuen Fall übernimmst, obwohl du alles abschließen solltest?«
»Ja, genau das ist es. Ich bin um meine Meinung gebeten worden. Mehr nicht.«
»Natürlich konntest du nicht nein sagen.«
»Richtig. Ob es dir gefällt oder nicht, Susanne, in den nächsten fünf Wochen bin ich noch Polizist.«
Susanne drehte sich um und ging zurück ins Bett. Fabel blieb einen Moment lang schweigend stehen und betrachtete die geschlossene Schlafzimmertür. Dann setzte er sich hin und konzentrierte sich wieder auf eine ferne Stadt und den dortigen Tod von zwei jungen Frauen.
Plötzlich merkte Fabel, dass das Tageslicht in seine Wohnung und eine bleierne Müdigkeit in seinen Körper eindrang. Seit mehr als drei Stunden las er die Akte, stellte Vergleiche an und machte sich Notizen. Benni Scholz, der Ermittlungsbeamte, blieb bei seiner Vermutung, dass die beiden Opfer rein zufällig ausgewählt worden seien. Aber Fabel war an den Leichenfotos der Frauen etwas aufgefallen: Obwohl von unterschiedlicher Größe, hatten beide eine birnenförmige Figur mit reichlich Fleisch um Gesäß, Unterleib und Schenkel.
Er las Scholz’ Kommentare:
Es gibt keinen Hinweis auf eine prämortale Verstümmelung. Der relativ geringe Blutverlust an den Wunden deutet darauf hin, dass die Opfer zuerst erdrosselt wurden, und in den Hautabschürfungen am Hals gefundene Fasern bestätigen, dass die am Tatort zurückgelassenen Krawatten als Mordwaffe dienten. An der beim ersten Mord benutzten Krawatte wurden andersartige Fasern gefunden. Sie waren von ungewöhnlicher Farbe und Zusammensetzung und bestanden aus blauem Filz. Nachdem die Opfer tot waren, zog der Täter sie teilweise aus, drehte sie mit dem Gesicht nach unten in die Haltung, in der sie entdeckt wurden, und schnitt dann post mortem eine Fleischmenge aus dem Gesäß oder Oberschenkel der Opfer heraus. Diese Verstümmelung hat offensichtlich eine Bedeutung. Der Täter entfernte das Fleisch aus symbolischen Gründen. Von Interesse ist die Menge des herausgeschnittenen Fleisches. Im ersten Fall wurden 0,47 Kilo, im jüngsten Fall 0,40 Kilo mitgenommen. Die Gewichte sind einander so ähnlich, dass es sich vermutlich nicht um einen Zufall handelt. Möglicherweise hat der Mörder einige Erfahrung mit der Quantitätsabschätzung. Auch gleichen sich die glatten, ohne Korrekturen vorgenommenen Schnitte. Diese beiden Indizien könnten darauf hinweisen, dass der Täter beruflich mit Fleischmengen umgeht und das Schlachterhandwerk oder die Fleischverarbeitung als Beruf ausübt. Ebenso könnte er Chirurg oder ein sonstiger Mediziner sein.
Die entfernten Fleischmengen könnten auch für sich genommen von Bedeutung sein. Sie lagen bei rund 0,45 Kilo. Dies entspricht einem britischen Pfund, was nicht heißt, dass der Mörder Ausländer ist, sondern eher an »ein Pfund Fleisch« (wie in Shakespeares Drama Der Kaufmann von Venedig ) denken lässt und damit eine Metapher für die Ausübung von Gerechtigkeit gegenüber den Opfern sein könnte. Das könnte nahelegen, dass der Mörder mit seinen Opfern bekannt war.
Aus der Einheitlichkeit des Modus operandi geht unzweideutig hervor, dass der Täter des ersten Mordes auch den zweiten Mord beging. Zusammen mit der Symbolik der an jedem Tatort hinterlassenen Krawatte, der Bedeutung des Karnevals und der indirekten Äußerung psychosexuellen Hasses auf Frauen weist dies auf einen Serientäter hin.
Fabel blätterte die Akte durch. Die Weiberfastnacht hatte noch einen anderen Namen: Fetter Donnerstag, was anzeigte, dass es ein der Völlerei gewidmeter Tag war.
»Nein, Herr Kollege«, murmelte Fabel und betrachtete erneut die Tatortbilder, »unser Freund ist nicht daran interessiert, Souvenirs zu sammeln. Er hat Hunger. Sein Pfund Fleisch ist keine Trophäe, sondern eine Mahlzeit.«
Das Telefon klingelte.
10.
Sie standen da und starrten die drei durchsichtigen Plastiktüten auf Annas Schreibtisch an. Die eine enthielt eine uralt aussehende Walther-P4-Pistole, die zweite eine Tragetasche mit Bargeld und die dritte ein großes, mit Eselsohren versehenes Buch. Jede war versiegelt und mit einem blauen Spurensicherungsetikett gekennzeichnet.
»Wir haben es vor dem Laden gefunden«, sagte Anna Wolff, die für den Fall zuständig war. »Soziologie. Das hat Tschorba studiert … früher
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