Jan Fabel 04 - Carneval
einmal.«
Fabel schaute weiterhin schweigend auf die Spurensicherungstüten.
Anna schilderte, was in dem Laden geschehen war. Der türkische Besitzer habe erklärt, dass Breidenbach mutig gestorben sei; der junge Polizist habe unbedingt verhindern wollen, dass sich der Räuber mit einer Waffe entfernte. Außerdem gab der Türke an, er sei von Breidenbach dazu inspiriert worden, sich auf Tschorba zu stürzen. Der MEK-Mann habe den Bewaffneten gewarnt, dass er nicht mit zwei Männern fertig werden könne. Als Timo Tschorba die tödlichen Schüsse in Breidenbachs Körper abfeuerte, hatte sich der Ladenbesitzer auf ihn geworfen. Tschorba saß nun in einer Zelle, und sein geschwollenes, zerschrammtes Gesicht trug die Spuren des Zusammenstoßes mit dem Türken. Dieser hatte den Junkie entwaffnet und war zu Breidenbach geeilt, doch der junge Polizist war bereits tot. Der Ladenbesitzer gab zu, dass er dem wie ein Kind weinenden Tschorba daraufhin mit der Pistole ins Gesicht geschlagen habe.
»Ich kann’s nicht glauben«, sagte Fabel schließlich. »Er war dabei. Ich meine Breidenbach. Er war bei dem Aichinger-Vorfall dabei. Der MEK-Beamte, der mich zur Wohnungstür begleitet hat.« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich habe mich wie ein Blödmann benommen … und Breidenbach behandelt, als wäre er ein schlechterer Polizist als ich. Nur weil er Waffenexperte war. Ich hatte unrecht. In erster Linie war er Polizist.«
Anna erläuterte die Details, darunter Tschorbas Geständnis, den Bericht der Ballistik und der Spurensicherung sowie die ersten Befunde des Gerichtsmediziners Möller. Fabel nahm wenig davon zur Kenntnis. Es war die für die Mordkommission typische Darstellung von trockenen Fakten und Zahlen, von Zeitangaben und Todesursachen, verwundetem Fleisch und zerrissenem Stoff. Er hatte das alles schon so viele Male gehört. In Gedanken war er immer noch auf dem Treppenabsatz eines Wohnblocks in der Jenfelderstraße zusammen mit einem jungen MEK-Angehörigen, der seine Karriere gerade begann, während Fabel seine Laufbahn beendete. Er konnte sich sein pauschales Urteil über Breidenbachs Motive und Ziele nicht verzeihen. Fabel dachte daran, wie jung und durchtrainiert der Mann gewesen war. Dann stellte er sich vor, wie Breidenbach grau und blutlos auf Möllers rostfreiem Autopsietisch lag, nachdem er aufgeschnitten worden war und sich die Restwärme seiner inneren Organe in der kühlen Luft des Obduktionssaals verflüchtigt hatte.
Nach Annas Vortrag bat er Werner in sein Büro. Dies war seit Fabels Kündigung zu einem fast täglichen Ritual geworden: die allmähliche Übergabe der Verantwortung an seinen Freund. Früher hatte er damit gerechnet, dass Maria ihn ablösen würde, doch das kam nicht mehr infrage. Er brachte Werner auf den neuesten Stand hinsichtlich der verschiedenen Fälle und bestätigte, dass Anna und Henk Hermann weiterhin den Mord an Breidenbach bearbeiten sollten. Dann schaltete Fabel seinen Anrufbeantworter an und holte sein Jackett hinter der Tür hervor.
»Ich mache für heute Nachmittag Schluss. Muss noch ein paar Sachen einkaufen«, erklärte er Werner. Er deutete auf seinen Schreibtisch mit den Akten, über die sie gesprochen hatten. »Warum erledigst du deinen Papierkram nicht hier? Damit du dich schon mal daran gewöhnst.«
11.
Ansgar machte sich in der Küche der »Speisekammer« zu schaffen. Einem Fremden wäre eine Restaurantküche als Inbegriff des Chaos erschienen: Bestellungen übertönten das Geräusch brutzelnder oder kochender Speisen, die Ventilatoren rauschten, und die Angestellten wichen einander in einem hastigen Ballett aus. Doch für Ansgar war die Küche der einzige Ort, an dem wahre Ordnung herrschte. Der Tanz des Küchenpersonals, der Rhythmus der Pfannen und Backöfen – er steuerte alles. Niemand musste zu lange auf seine Bestellung warten; kein Gericht kam halbgar oder zerkocht beim Gast an. Er genoss den Ruf eines Künstlers und Perfektionisten.
Ansgar hatte nie geheiratet, denn er war nie einer Frau begegnet, die seine besonderen Bedürfnisse verstanden hätte. Diese Bedürfnisse wären irgendwann zum Vorschein gekommen. Er hatte Partnerinnen gehabt, doch sein Verhalten war im Bereich der Erwartung geblieben. Für die Befriedigung seiner anderen, wahren Bedürfnisse hatte er Frauen bezahlen müssen, und zwar gut. Jedenfalls hatte Ansgar, da er kein normales Liebesleben führte, keine Ehefrau finden können. Wenn er jemanden als sein Kind betrachtete, dann
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