Jan Fabel 04 - Carneval
inzwischen nackt, und Andrea schaute verachtungsvoll auf seine Erektion hinunter.
»Aufstehen«, befahl sie. Er gehorchte. »Du darfst mich berühren.«
Der Kunde strich ihr mit zitternden Fingern über den Körper. Nicht über ihre Brüste und ihre Scham, sondern über ihre Arme, ihren Bauch und ihre Schenkel. Sie stand fest da, ohne eine Reaktion zu zeigen. In Wahrheit hatte Andrea Freude an ihrer Arbeit, denn sie genoss das Gefühl der Macht und Kontrolle. In Köln fehlte es nicht an Dominas, aber dies war etwas anderes. Ihre Kunden ergötzten sich nicht daran, dass sie Toiletten säubern und Schuhe putzen mussten. Hier ging es weniger um Psychisches als um Physisches. Die Kunden gierten nach ihrem Körper und wollten ihn anfassen. Manchmal endete es mit einer Penetration, und manchmal, wie in diesem Fall, hatte der Kunde ganz bestimmte Wünsche geäußert.
Er zog die Hände zurück, doch seine Augen glitten weiterhin über ihre massiven Muskeln.
»Bist du bereit?«, fragte sie.
Er nickte. »Aber nicht ins Gesicht …«, sagte er mit bebender Stimme.
»Nicht ins Gesicht«, wiederholte sie. »Ich weiß.«
Andrea machte eine kurze Pause, konzentrierte sich auf das Bild des pickelgesichtigen jungen Mannes, der sie in ihrem Café beleidigt hatte, und rammte die Faust in den nackten Bauch des Kunden. Er keuchte und krümmte sich ein wenig. Andrea wurde klar, dass sie nicht kräftig genug zugeschlagen hatte, dass er nicht auf seine Kosten kam. Nun beschwor sie ein anderes, viel älteres Bild herauf. Sie jagte ihm die Faust erneut in den Magen, und der Kunde krümmte sich, wobei er einen Schmerzensschrei unterdrückte.
Andrea stieß ihn aufs Bett, hockte sich mit gespreizten Beinen auf ihn und schlug wieder zu. Immer wieder.
9.
Fabel brauchte fast vier Stunden, um von Hamburg nach Norddeich zu kommen – ein wenig länger als gewöhnlich. Es war keine Reise, die ihm im Winter zusagte, es sei denn, er nahm den Zug. Aber da seine Mutter kürzlich einen Herzinfarkt gehabt hatte und sich mittlerweile in fortgeschrittenem Alter befand, legte er die Strecke häufiger zurück. Außerdem hatte ihm die Vorstellung gefallen, auf der Hin- und Rückfahrt mindestens sechs einsame Stunden im Auto verbringen zu können. Er würde Zeit haben, seinen Gedanken nachzuhängen.
Da der Himmel dunkler wurde, empfand er die Fahrt jedoch als zunehmend weniger reizvoll. Friesland ist flach, hügellos und den Launen der Nordsee ausgeliefert. Während Fabel die Landschaft durchquerte, in der er aufgewachsen war, zerrte ein Westwind, dem keine Erhebung Widerstand leistete, an seinem Auto, und die Regenschnüre an seiner Windschutzscheibe waren nun von Graupel durchsetzt.
Fabel hatte weder das Radio noch den CD-Player angestellt und blickte finster durch den Regen auf das graue Band der A28. Er benötigte die Zeit zum Nachdenken, denn er wollte sich während der Fahrt zwei Zukunftsversionen ausmalen. Zunächst die eine, die Bartz ihm anbot. In dieser Position würde sich Fabel seine Konsumwünsche mühelos erfüllen können und von der Welt des Horrors und der Gewalt fern sein. Das zweite Angebot, das ihm van Heiden und das BKA gemacht hatten, erschien ihm jedoch viel attraktiver, als er zugeben wollte. Sosehr er es zu leugnen versuchte, war es doch schmeichelhaft, auf seinem Gebiet als führender Experte zu gelten. Fabel bemühte sich, beide Versionen objektiv zu prüfen. Dabei verbannte er etwas anderes aus seinem Gedächtnis: die Kölner Akte. Es war eine unnötige Ablenkung, doch sie schlich sich immer wieder in seine Gedanken ein.
Fabel bekam einen Schreck, als er merkte, dass er sich an die letzte halbe Stunde der Fahrt nicht mehr erinnern konnte, als wäre ein Autopilot eingeschaltet gewesen, während er über seine Zukunft, seine Beziehung zu Susanne und einen gesichtslosen Mörder in einer ihm kaum bekannten Stadt nachgegrübelt hatte. Plötzlich sah er, dass der Ort Norden ihn einfarbig umgab. Er fuhr weiter auf der Norddeicher Straße in Richtung Nordsee zum Haus seiner Mutter.
10.
Maria Klee ging wieder an dem Restaurant vorbei. Das hatte sie in den vergangenen beiden Tagen ein Dutzend Mal getan und dabei immer wieder andere Kleidung getragen. Sie hatte sich sogar schlampige Jeans und ein Sweatshirt übergezogen und ihr blondes Haar unter der Wollmütze von Karstadt verborgen. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Wenn eine Bundesbehörde dieses Restaurant überwachte, würde niemandem auffallen, wie häufig Maria daran
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