Jan Fabel 04 - Carneval
auf dich«, sagte er, als Sascha weit genug entfernt war, um ihn nicht mehr zu hören.
2.
Fabels Mutter war entzückt über die Ankunft ihres Sohnes. Sie umarmte ihn herzlich an der Tür, nahm ihm den Regenmantel ab und geleitete ihn ins Wohnzimmer. Fabels Mutter war Schottin, und er lächelte, als er ihr Deutsch mit dem starken Akzent hörte, der nicht weniger durch das örtliche Friesisch als durch ihre englische Muttersprache geprägt war. Diese seltsame Kombination hatte zur Folge gehabt, dass Fabel, während er aufwuchs, einen zusätzlichen Aspekt seiner Identität nie übersehen konnte. Während sie hinausging, um Tee zu kochen, wärmte er sich an dem gekachelten Kamin auf. Zu Hause trank Fabel selten Kaffee. Die Ostfriesen sind die stärksten Teekonsumenten der Welt und lassen die Engländer und die Iren in ihrem tanninfarbenen Kielwasser weit hinter sich.
In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hatte Fabel wenig Zeit in diesem Zimmer verbracht, doch er konnte immer noch die Augen schließen und sich alles genau vorstellen: Das Sofa und die Sessel waren neu, aber sie standen in genau der gleichen Position wie ihre Vorgänger; die Reproduktion der »Nachtwache« von Rembrandt; den Bücherschrank, der zu groß für den Raum und mit Büchern und Zeitschriften vollgestopft war; den kleinen Schreibtisch, den seine Mutter, die die Welt der E-Mails und jeglicher anderen elektronischen Kommunikation an sich hatte vorbeiziehen lassen, immer noch für ihren Briefwechsel benutzte. Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Konstruktion des Hauses waren Fabel immer noch zutiefst vertraut. Die dicken Wände, die schweren Holztüren und Fensterrahmen schienen ihn stets zu umgeben.
Zu Norddeich hatte er eine seltsame Beziehung, denn er kehrte nur zurück, um seine Mutter zu besuchen, und verspürte keine wirkliche Verwurzelung mit dem Ort. Doch dies war die einzige Welt, die er als Kind gekannt hatte. Von ihr war er geprägt worden. Schrittweise hatte er sich von Ostfriesland entfernt, indem er zuerst an der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg und dann an der Universität Hamburg studierte.
Als sie mit dem Teetablett ins Wohnzimmer zurückkehrte, erzählte er seiner Mutter, was er dachte. »Ich hätte nie damit gerechnet, irgendwann Polizist zu werden. Jedenfalls nicht, während ich hier aufgewachsen bin.«
»Das stimmt nicht ganz«, widersprach sie. Sie goss etwas Tee ein, fügte Milch hinzu und ließ, bevor sie Fabel die Tasse reichte, ein Kluntje hineinfallen. Dabei trank er seinen Tee seit fast dreißig Jahren ohne Zucker. »Du warst immer ein so ernster kleiner Junge. Du wolltest auf jeden aufpassen. Sogar auf Lex. Gott weiß, wie oft er Ärger hatte, und du hast ihm jedes Mal aus der Patsche geholfen.«
Fabel lächelte. Der Name seines Bruders war die Kurzform von »Alexander«. Fabel selbst war nur knapp dem Namen »Iain« entgangen. Seine schottische Mutter schloss einen Kompromiss mit seinem deutschen Vater, wonach er »Jan« getauft wurde, was »ähnlich genug« war. Lex war der Ältere der beiden, doch Fabel hatte stets klüger und reifer gewirkt. Damals war er über Lex’ unbekümmerte Lebenseinstellung verärgert gewesen, doch nun beneidete er seinen Bruder darum.
»Und das Gemälde … Als du noch ganz klein warst, hast du es stundenlang angeschaut. Du hast mich nach den Männern darauf gefragt, und ich habe erklärt, dass sie nachts durch die Straßen patrouillieren, um die Menschen vor Verbrechern zu schützen. Du hast damals gesagt: ›Das werde ich tun, wenn ich erwachsen bin. Ich möchte die Menschen beschützen.‹ Also irrst du dich. Du hast schon als Kind daran gedacht, Polizist zu werden.« Sie lachte.
Fabel betrachtete das Bild. Er konnte sich nicht daran erinnern, ein Interesse an dem Gemälde oder am Beruf der dargestellten Personen ausgedrückt zu haben. Es war einfach ein unbemerktes, für selbstverständlich gehaltenes Element seiner kindlichen Umgebung geworden.
»Daran ist sowieso alles verkehrt.« Er nippte an seinem Tee, ohne ihn umzurühren, doch der Zucker löste sich auf und setzte sich auf dem Boden der Tasse ab. »Es ist nicht einmal eine Nachtszene, denn es war der Firnis, der es zu dunkel werden ließ. Und die Männer haben nichts mit einer Nachtwache zu tun. Es sind zivile Milizmitglieder unter dem Befehl eines Aristokraten. Das Originalgemälde war neben einem anderen mit der Bezeichnung ›De Nachtwacht‹ gelagert worden, und man hat die Titel
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