Jan Fabel 04 - Carneval
sich das Blut ab, das ihm ins Gesicht gespritzt war, kehrte zu seinem Auto zurück und fuhr die schmale Wohnstraße zum Weichselring hinunter, der sich wie ein würgendes Lasso um Chorweiler schlang.
»Alles klar«, murmelte Maria vor sich hin. »Du bist mit Sicherheit Viktor.« Sie fuhr aus ihrer Parklücke und merkte, dass sie nun das gleiche Problem hatte wie vorher der Lieferwagenfahrer. Sein Fahrzeug hinderte sie daran, Viktors Auto zu folgen. Sie betrachtete den Mann, der zusammengekrümmt auf dem Boden lag. Wäre sie in Hamburg in der gleichen Situation gewesen, hätte sie die Jagd aufgegeben und den Fahrer versorgen lassen. Aber dies war nicht Hamburg.
Maria legte den Rückwärtsgang ein und rollte durch eine Seitenstraße. Auf der Herfahrt war sie durch die Mercatorstraße gekommen, die Hauptstrecke nach Chorweiler, und nun mutmaßte sie, dass Viktor über den Weichselring darauf zuhalten würde. Sie bog zweimal rechts ab und rechnete damit, auf den Weichselring zu stoßen. Ihre Erwartung erfüllte sich jedoch nicht. Maria fluchte und hielt verzweifelt nach einem Wahrzeichen Ausschau, das ihr als Orientierung dienen konnte. Sie trat den Gashebel durch und raste auf eine Linkskurve zu. Danach bog sie erneut rechts ab und erblickte den Verkehr auf der Mercatorstraße. Sie hatte den Weichselring völlig umgangen und musste am Ende der Straße bei Rot bremsen. Dort spähte sie in beide Richtungen, konnte Viktors auffälligen Chrysler jedoch nicht entdecken.
Die Ampel sprang um, aber sie war sich immer noch nicht sicher, welchen Weg sie einschlagen sollte, und blieb stehen. Ein Auto näherte sich ihr hupend von hinten. Sie blickte in den Spiegel und sah ein gewaltiges amerikanisches Auto mit einem gewaltigen ukrainischen Fahrer. Um Verzeihung bittend hob sie die Hand, bog nach links in die Mercatorstraße und hoffte, dass Viktor das Gleiche tun würde. Ja, auch er schwenkte nach links. Maria hatte keine Ahnung, wie es ihr gelungen war, vor ihm die Kreuzung zu erreichen, doch nun war die Person, der sie hatte folgen wollen, hinter ihr.
Bei dem Gedanken, dass es sich vielleicht nicht um einen Zufall, sondern um ein absichtliches Manöver handelte, wurde ihr der Mund trocken. Hatte er sie etwa vor dem Wohnblock entdeckt? Viktor schien Maria nicht der am besten ausgebildete von Witrenkos Gangstern zu sein. Er ähnelte eher einem Schläger als einem Soldaten. Andererseits hatten die meisten ukrainischen und russischen Verbrecher einen Speznas-Dienst hinter sich, und Viktor hatte den Lieferwagenfahrer fachmännisch, wenn auch grob überwältigt. Sie hielt an der nächsten Ampel an und schaute in den Spiegel, um zu sehen, ob Viktor einen seiner Blinker eingeschaltet hatte. Das war nicht der Fall, und so fuhr sie geradeaus weiter. Er folgte ihr. Vor Maria befanden sich zwei Parklücken. Sie blinkte und zwängte sich in eine hinein. Viktor fuhr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und Maria ließ zwei weitere Autos vorbei, bevor sie wieder in den Verkehr ausschwenkte. Sie seufzte vor Erleichterung. Allem Anschein nach schützte die Anonymität ihres Saxos sie davor, entdeckt zu werden. Maria konzentrierte sich auf die albernen Heckflossen von Viktors 1960er Chrysler, der jetzt zwei Autos vor ihr war.
Etwa fünfzehn Minuten lang fuhren sie nach Süden durch die Stadt, ohne auf die A57 zurückzukehren, die Maria nach Chorweiler geführt hatte. Viktor machte zweimal Halt, um Geld abzuholen, beide Male in heruntergekommenen Gegenden. Nach dem zweiten Stopp wurde Maria unruhig, da sie sich unversehens direkt hinter Viktor wiederfand. Sie blieb möglichst weit hinter ihm, doch an jeder roten Ampel musste sie Stoßstange an Stoßstange mit Viktor anhalten. Wenn er in seinen Rückspiegel schaute, würde er ihr Gesicht deutlich erkennen können. Maria zupfte sich ihre Wollmütze noch weiter in die Stirn. Sie hatte die Orientierung verloren und versuchte, sich die Straßen einzuprägen, an denen sie vorbeikamen. Sie waren noch in der Stadtmitte, doch die Architektur wechselte von Wohngegend zu Industriegelände. Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass hier weniger Autos unterwegs waren, wodurch ihre Überwachung auffälliger zu werden drohte. Schließlich erreichten sie, unter der Autobahn hindurch, eine weitere Wohngegend, die durch ein gelbes Stadtteilschild als Ossendorf ausgewiesen war. Maria merkte sich den Namen der Äußeren Kanalstraße, die sie nun entlangfuhren, und schloss sich Viktor an, der in eine mit
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