Jan Fabel 04 - Carneval
nicht eher eine Vermisstensuche eingeleitet werden?«, fragte Fabel. Kris hatte Kaffee gekocht und reichte ihm einen Becher. Auf die Seite des Bechers waren das Bild eines Clowns und die Parole »Kölle Alaaf!« gedruckt.
»Sie ist nicht tot«, widersprach Kris. »Denn sie hat ihren Eltern ein paarmal geschrieben und ihnen mitgeteilt, dass sie gesund sei und es ihr gut gehe. Aber sie behauptet, nun ›ein anderes Leben‹ zu führen. Auf den Briefen steht keine Absenderadresse, doch sie tragen einen Kölner Poststempel. Die Eltern wohnen bei Frankfurt. Von dort stammt Vera.«
»In Ordnung«, sagte Fabel. »Tansu könnte in einem der Fälle oder sogar in beiden auf etwas Wichtiges gestoßen sein. Wir sollten die Auffindung von Vera Reinartz vorrangig behandeln.«
»Was hast du in Hamburg sonst noch unternommen?«, fragte Scholz.
»Ich habe Profile anfertigen lassen.«
»Von dem Mörder? Das haben wir natürlich auch …« Scholz’ Gesicht umwölkte sich.
»Nicht von dem Mörder. Es sind psychosoziale Profile der Opfer. Vermutlich hast du alle denkbaren Kontakte zwischen ihnen überprüft?«
»Ja. Ihre Pfade haben sich unseres Wissens nie gekreuzt. Es sei denn, du hast andere Informationen.« Die Wolken hatten sich noch nicht verzogen.
Fabel lächelte entwaffnend. »Hör zu … ich habe nicht die gleichen Ermittlungen wie ihr angestellt, und ich bin auch nicht der Meinung, dass ihr nachlässig gewesen seid. Aber ich bin um Hilfe gebeten worden und habe meine eigenen Hausarbeiten gemacht. Natürlich ist meine Perspektive eine andere.«
Scholz nickte. »Keine Einwände, Jan.«
»Ich weiß, dass ihr ähnlich vorgegangen sein müsst«, sagte Fabel, »aber ich habe auch ein psychogeografisches Gutachten anfertigen lassen.«
»Ja, genau wie wir. Da es nur zwei Morde gibt, meinten unsere Profiler, das Material reiche für ein Schema nicht aus. Aber sie glauben, dass wir nicht weit von der Altstadt Ausschau halten sollten.«
»Sind sie auf die Nähe zu Kirchen eingegangen?«, fragte Fabel.
»Der Punkt wurde erwähnt, aber verworfen. Es gibt so viele Kirchen in Köln. Wenn ein religiöses Element mitspielt, würde der Dom bestimmt einbezogen werden. Aber auch das wäre schwer zu beurteilen. Der Kölner Dom liegt im Zentrum der Stadt, und die Straßen gehen strahlenförmig von ihm ab. Könnte es deiner Ansicht nach ein religiöser Spinner sein?«
»Vielleicht. Allerdings könnten Kirchen als reine Gebäude, nicht als Institutionen im Vordergrund stehen. Wie gesagt, Köln hat keinen Mangel daran.« Fabel grinste. »Was haltet ihr drei davon, für mich heute die Fremdenführer zu machen?«
2.
Eine Woche war vergangen. Nichts. Sie hatte die Rundfunk- und Fernsehnachrichten verfolgt und sich jeden Tag einen Kölner Stadt-Anzeiger gekauft. Wahrscheinlich hatte Maria einen Menschen getötet oder ihn zumindest schwer verletzt, aber nirgends wurde erwähnt, dass man eine Leiche gefunden oder einen von Kugeln durchlöcherten BMW irgendwo in einem Straßengraben entdeckt hatte. Der Ukrainer hatte sich in Luft aufgelöst. Andererseits war sie in der Zeitung auf einen kurzen Artikel über den Mord in der Küche des Restaurants Biarritz gestoßen. Sie hatte Slawko Dmitruk versichert, dass er ihr vertrauen könne. Dass sie ihn nicht in Gefahr bringen werde. Doch das Gegenteil war eingetreten: Man hatte ihn abgeschlachtet, weil Maria ihn gezwungen hatte, mit ihr zu reden.
Die Leiche des Ukrainers war wahrscheinlich schon von seinen Komplizen beseitigt worden, oder er hatte überlebt, und seine Wunden wurden von ihnen behandelt. In jedem Fall würden sie nach ihr suchen. Aber solange sie sich von der Gaststätte und Viktors Wohnung fernhielt, war sie vermutlich in Sicherheit. Und wenn die Ukrainer wirklich nicht wussten, wer sie war und wo sie sich aufhielt, dann konnte sie jederzeit aus der Stadt verschwinden. Zurück nach Hamburg. Zurück an ihre Arbeit. Zurück zu ihrer eigenen Identität.
Trotz allem hatte ihr Aufenthalt in Köln Vorteile gehabt. Denn dadurch, dass Maria jemand anders geworden war und nicht mehr – wie seit Monaten – das Objekt ihrer Selbstverachtung bildete, hatte sie sich den Phobien und Neurosen entziehen können, die sie zu zermalmen drohten. Überall um sie herum gab es Hinweise auf den sich nähernden Kölner Karneval, und jetzt erst begann sie zu begreifen, wie diese Menschen in ein paar Tagen des Wahnsinns, des Chaos schwelgten. Die Stadt verwandelte sich, genau wie ihre Bewohner. Und wenn
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