Jan Fabel 04 - Carneval
alles vorbei war und sie zu ihrem normalen Leben zurückkehrten, schienen sie etwas vom Karneval in sich zu bewahren. Vielleicht hatte sie das Gleiche erreicht.
Unglücklicherweise hatte sie daneben keine Ergebnisse vorzuweisen. Wie war sie nur auf den Gedanken gekommen, dass sie in der Lage sein würde, in dieser fremden Stadt einen der gefährlichsten und raffiniertesten Bosse des organisierten Verbrechens in Europa aufzuspüren? Nun sah sie ein, wie hoffnungslos und unausgegoren ihr lächerlicher kleiner Feldzug gewesen war. Sie würde für ein oder zwei Wochen in der Wohnung ihrer Freundin untertauchen und dann nach Hamburg zurückkehren. Vorher würde sie einen brauchbaren Friseur finden und ihre Haare wieder normal färben lassen. Sie würde die Kleidung und Persönlichkeit der alten Maria, doch ohne deren Neurosen, übernehmen. Niemand in Hamburg brauchte je zu wissen, wo sie sich aufgehalten hatte.
Zunächst musste Maria sich jedoch um das Auto kümmern. Ihr zweites Hotel lag in der Nähe des Konrad-Adenauer-Ufers am Fluss, und sie hatte den Saxo auf dem Parkplatz um die Ecke von ihrem ersten Hotel zurückgelassen. Sie würde ihn dem Gebrauchtwagenhandel, bei dem sie ihn erworben hatte, für einen Bruchteil des ursprünglichen Preises zum Rückkauf anbieten. Der Saxo war ein kostspieliger Mietwagen gewesen. Maria wollte zuerst in eine ihrer lotterigen Verkleidungen schlüpfen, doch dann überlegte sie es sich anders und zog stattdessen ein elegantes Designerkostüm an, das sie aus Hamburg mitgebracht hatte. Zu ihrem Erstaunen passte das Kostüm gut zu ihrem neuerlich dunklen Haar. Sie schminkte ihr Gesicht und betrachtete sich aufmerksam im Spiegel. Fast die alte Maria. Mit dem Unterschied, dass sie beschlossen hatte, auf der Fahrt zum Autohändler eine Pause zu machen und ein spätes Frühstück zu bestellen.
Sie schritt mit frischer Energie und Selbstsicherheit aus dem Hotel hinaus. Nach ungefähr zwei Blocks merkte sie, dass jemand dicht hinter ihr war. Plötzlich beugte er sich vor, und seine Finger schlossen sich wie ein Schraubstock um ihren Oberarm. Etwas Kaltes und Hartes – unverkennbar der Lauf einer Pistole – wurde ihr über der Hüfte in den Rücken gepresst.
»Tun Sie genau das, was ich sage.« Maria spürte eine eisige Furcht in sich aufsteigen, denn sie erkannte einen ukrainischen Akzent. »Steigen Sie in den Lieferwagen vor uns.«
Die Hintertür wurde von innen aufgeschwenkt, als sie sich dem großen Lieferwagen näherten. Der Bewaffnete drängte Maria hinein, wonach eine zweite Gestalt, innerhalb des Wagens und für sie unsichtbar, ihr rasch eine schwarze Haube über den Kopf zog. Eine Nadel bohrte sich in ihren Arm, und ein Frösteln durchfuhr sie, während ihr etwas eingespritzt wurde.
3.
»Dies ist die Stelle, an der Melissa Schenker, das zweite Opfer, gefunden wurde. Weiberfastnacht, letztes Jahr«, berichtete Scholz. Fabel, Kris, Tansu und er standen im kalten Graupelregen mit eingezogenen Köpfen am Eingang der Gasse.
Fabel schaute die Straße entlang. Sie krümmte sich am Ende, aber er konnte einen Turm erkennen, der über den Dächern in den Himmel ragte, und deutete auf ihn. »Was ist das?«
»St. Ursula.«
»Wurde das erste Opfer, Sabine Jordanski, nicht in der Nähe entdeckt?«
»Ja. Auf der anderen Seite. Ihre Wohnung lag am Gereonswall. Aber, wie gesagt, wir haben eine Menge Kirchen in Köln. Hier zum Beispiel befinden wir uns in unmittelbarer Nähe von vier unserer zwölf romanischen Kirchen … St. Ursula, St. Kunibert, St. Gereon, St. Andreas und dann natürlich …« Scholz drehte sich um, zeigte in die andere Richtung und streckte den Arm aus, als kündige er eine Varieténummer an. Fabel betrachtete die Zwillingstürme des Doms, die sich grauschwarz und bedrohlich über die Stadt erhoben.
Dann wandte er sich wieder der Stelle zu, die knapp ein Jahr zuvor ein Mordschauplatz gewesen war. Die schmale Gasse lag zwischen zwei vierstöckigen Wohnhäusern. Die Pflastersteine waren säuberlich gefegt worden. Eine Reihe von Recycling- und Abfallbehältern säumte eine Seite, sodass nur jeweils eine Person hindurchgehen konnte. Die Abfalleimer hatten schon zur Zeit des Mordes dort gestanden, wie Fabel von den Tatortfotos wusste. Nun bestätigte sich seine Ahnung, die sich unter dem Eindruck der Fotos herausgebildet hatte.
»Es wurde bisher vorausgesetzt, dass der Mörder den Opfern gefolgt ist und sie aus der Karnevalsmenge ausgewählt hat, weil sie physisch seinen
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