Jan Fabel 04 - Carneval
Steckdosen und Datenanschlusspunkten angebracht.
»Ich finde, die Wohnung sieht ziemlich luxuriös aus«, sagte Fabel.
»Das habe ich nicht bestritten«, erklärte Scholz. »Ich wollte darauf hinaus, dass ihre Einkommenshältnisse viel mehr ermöglicht hätten. Sie verdiente nämlich über dreihunderttausend Euro netto jährlich. Die Firma gehörte ihr, und nachdem sie das Nutzungsrecht für ihre Spiele an die großen Produzenten verkauft hatte, behielt sie das Copyright und bezog für jedes auf dem Markt abgesetzte Exemplar Tantiemen. Ihre Freundinnen meinten, sie hätte ihre Arbeit geliebt. Zu sehr geliebt.«
Fabel, der aus dem Fenster zu den beiden Türmen der Kathedrale hinübergeschaut hatte, drehte Scholz den Kopf zu. »Wie meinst du das?«
»Sie fingen an, sich Sorgen um ihren Geisteszustand zu machen. Melissa hat alternative Realitäten für ihre Spiele gebaut. Erfundene Welten. Ihre Freundinnen haben ausgesagt, dass sie viel zu viel Zeit in diesen Alternativexistenzen verbrachte. Sie fürchteten, dass Melissa den Bezug zur Realität verlieren könnte. Wenn sie nicht an der Entwicklung anderer Welten arbeitete, lebte sie in ihnen und beschäftigte sich mit Online-Spielen.«
»So etwas wird als Computer-, Online- oder Internetsucht bezeichnet. Solche Leute geraten aus dem Gleichgewicht, weil sie sich dauernd in virtuellen Welten aufhalten und der Realität und realen Personen nicht genug Zeit widmen. Dadurch entstehen handfeste mentale Probleme. Interessanterweise ist die Computersucht besonders stark unter denen verbreitet, die ein schwaches Selbstbild haben, besonders was ihren Körper angeht. Auf diese Weise existieren sie jenseits der Schranken ihres physischen Selbst … des Selbst, mit dem sie unzufrieden sind.«
»Das würde zu dem passen, was wir über Melissa in Erfahrung gebracht haben«, bestätigte Tansu Bakrac. Sie stand unter einem der Strahler, und ihr kupferfarbenes Haar schimmerte noch röter. »Das, was wir in ihren Computern gefunden haben, hat eine Menge enthüllt. Sie schrieb Rezensionen über andere Spiele für Foren, Online-Firmen und Ähnliches. Die meisten Rezensionen waren hundert oder hundertfünfzig Worte lang.«
»Na ja, sie war Expertin …«
Tansu lachte. »Wir haben zweitausend Rezensionen in zwei Jahren gezählt. Das sind ungefähr dreihunderttausend Worte. Und einige enthielten Gift und Galle. Sie war sarkastisch und neunmalklug. Ich kann mir vorstellen, dass sie einige Leute verärgert hat.«
»Ach ja?«
»Nein … das führt nicht weiter. All ihre Rezensionen wurden unter Pseudonymen geschrieben. Aber es ist offensichtlich, was sich hinter ihnen verbarg. Ihre Artikel waren typisch für jemanden, der kein eigenes Leben hat und seinem Zorn anonym Luft macht. Hinzu kamen noch all die Stunden, die sie mit Spielen verbrachte. Es gab keine technische Neuheit, die sie nicht besaß. Alles, um den Kontakt mit der realen Welt zu meiden. Allerdings wusste ich nicht, dass man eine Bezeichnung für so etwas hat. Ich dachte, sie sei einfach ein trauriger Fall …«
»Aber ich sehe keine Verbindung zwischen ihrer Situation und dem, was ihr zugestoßen ist«, wandte Scholz ein.
»Vielleicht hast du recht. Was ist aus ihren Computern geworden?«, fragte Fabel.
»Wir haben sie noch gelagert«, antwortete Kris Feilke. »Einfach für den Fall, dass Melissa Schenker jemandem online begegnet ist. Nicht unwahrscheinlich bei dem Leben, das sie führte.«
»Habt ihr nicht geprüft, ob sie mit jemandem online Bekanntschaft geschlossen hat?«
»Doch. Aber wir konnten nichts entdecken. Ich hatte einen unserer Techniker mit der Durchsicht ihrer Dateien beauftragt, aber ich musste ihn abziehen. Das Ganze hat zu viel Zeit erfordert und schien wenig zu bringen. Das Hauptproblem war, dass ein großer Teil ihres Materials verschlüsselt ist, und wir konnten es bisher nicht decodieren. Aber die Liste ihrer Internetverbindungen liefert keinen Hinweis darauf, dass sie jemanden online getroffen hatte.«
»Bei jemandem, der technisch so beschlagen war wie Melissa, bedeutet das gar nichts. Ihr würdet staunen über die Dinge, die sich im Internet abspielen. Wenn wir ihr Passwort erfahren könnten, würden wir bestimmt entdecken, dass Melissa ein sehr aktives Sozial- und Geschlechtsleben geführt hat. Online. Hatte sie Angehörige?«
»Eine Schwester. Ich glaube nicht, dass sie einen engeren Kontakt hatten. Der Wohnungsverkauf lief ausschließlich über Anwälte. Die Eltern leben nicht
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