Jan Fabel 04 - Carneval
Wünschen entsprachen. Aber ich glaube, dass die Wahl schon viel früher getroffen wurde. Wochen oder vielleicht Monate vorher. Er könnte sich im Laufe des Abends auf ihre Fährte gesetzt haben, aber mir kommt es plausibler vor, dass er genau wusste, wo sie wohnte, und sie entweder überholt hat oder ihren gewohnten Weg kannte. Ich denke, dass er hier auf Melissa Schenker gewartet hat, als sie heimkehrte. In der Dunkelheit, in diesem beengten Raum. Wie ein lauerndes Gespenst.«
»Also hat er sich den Ort schon lange vorher ausgesucht? Nicht bloß das Opfer?«
»Genau … und damit ergibt sich ein völlig neues Bild«, sagte Fabel. »Serienmörder lassen sich in zwei Gruppen einteilen: in den impulsiven und den organisierten Typ. Die impulsiven Mörder reagieren einfach auf ihre Gelüste. Sie kratzen sich, wenn es sie juckt. Kannibalistische Serienmörder sind fast immer impulsiv, und ich dachte, dass wir es hier mit einem von ihnen zu tun hätten.«
»Kommt es darauf denn an?«, fragte Kris Feilkes, dessen Akne sich auf dem Blauweiß seiner durchgefrorenen Haut noch deutlicher abhob.
»Und ob«, erwiderte Fabel. »Beide Typen begehen Serienmorde, beide nehmen häufig Trophäen mit, beide leiden unter Borderline-Persönlichkeitsstörungen, beide sind überwiegend Versager. Aber es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen ihnen. Impulsive Serienmörder haben einen unterdurchschnittlichen Intelligenzquotienten. Häufig erheblich unter dem Durchschnitt.«
»Wie Joachim Kroll.« Scholz bezog sich auf ihr Gespräch im Restaurant.
»Wie Joachim Kroll. Organisierte Serienmörder dagegen haben gewöhnlich einen überdurchschnittlichen IQ. Und das wissen sie auch. Sie sind clever. Allerdings nie ganz so clever, wie sie denken. Jedenfalls neige ich nun zu der Ansicht, dass der Karnevalsmörder zum organisierten Typ gehört. Er ist ein Planer. Besonders in diesem Fall, denn Melissa Schenker war fast eine Einsiedlerin. Das geht aus der Akte hervor, die du mir geschickt hast. Sie hatte praktisch keinen Umgang außer den mit ihren Freundinnen, die dauernd versuchten, sie aus der Isolation herauszulocken.«
»Stimmt. Sie hatten Melissa überredet, sich zur Weiberfastnacht mit ihnen aufzumachen. Die armen Mädchen. Ich habe sie verhört. Sie waren völlig niedergeschlagen und von Schuldgefühlen zerfressen. Sie warfen sich vor, dass Melissa noch am Leben wäre, wenn sie sie nicht beschwatzt hätten, mit ihnen zu kommen.«
»Wahrscheinlich haben sie recht. Allerdings begreife ich nicht, warum Melissa ausgewählt wurde. Der Mörder ist ein Pfadfinder und Jäger. Er muss sie irgendwo außerhalb ihrer Wohnung beobachtet haben.«
Scholz zuckte die Achseln, womit er sich offenbar auch vor der Kälte schützen wollte. »Das haben wir überprüft. Sie war eine sehr systematische Person. Arbeitete mit Computern und entwarf Spiele. Verdiente ein kleines Vermögen damit. – Nicht, dass ihre Wohnung darauf hindeutet. Die Entwicklung von Spielen scheint heutzutage eine große Sache zu sein. Jeder möchte an Bord.«
Fabel blickte zu den oberen Etagen der Gebäude in der Straße, wo Melissa Schenker gewohnt hatte. Der Himmel schien seinen Blick finster zu erwidern.
»Hat jemand ihre Wohnung übernommen?«
»Nein. Sie stand über sechs Monate leer und ist dann an eine Immobilienfirma verkauft worden. Man möchte sie vermieten, aber die Sache hat sich herumgesprochen. Und die Leute hier können ein abergläubischer Haufen sein.«
»Ist sie renoviert oder tapeziert worden?«
»Noch nicht.« Scholz grinste.
»Ich würde sie mir gern ansehen«, sagte Fabel.
Scholz grinste unverwandt weiter, während er den Handschuh in seine Lederjacke schob. Er zog ein Schlüsselbund hervor und schüttelte es, als lasse er eine Glocke läuten. »Das habe ich mir schon gedacht …«
Die Wohnung wirkte sogar an einem Tag wie diesem sympathisch und hell, aber ohne das Mobiliar konnte Fabel keine Beziehung zu der Persönlichkeit herstellen, die er bis dahin nur durch Scholz’ Akte kennengelernt hatte. Die Wände waren weiß. Von der hohen Decke warfen Strahler helle Kreise auf das glänzende Fußbodenparkett. Draußen drückte sich der düstere, blaugraue Tag an die Bogenfenster. In der geräumigen, durchgehenden Wohnfläche führte eine breite Stufe zu einem erhöhten Bereich hinauf.
»Dort hat sie gearbeitet«, kommentierte Scholz, der Fabels Blick gefolgt war. Der Hauptkommissar nickte. An der Wand der erhöhten Fläche war eine Reihe von
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