Jan Fabel 04 - Carneval
mehr.«
»Irgendwelche Männerbekanntschaften?«
»Hier hatte sie keine. Melissa stammte nicht aus Köln, sondern sie wuchs in Hessen auf. Sie war nur mit sehr wenigen Männern länger zusammen. Wir haben alle überprüfen lassen. Nichts.«
»Ich würde mir gern mal ihre Sachen ansehen. Später, meine ich.«
Fabel schaute sich wieder in der Wohnung um. Dies war Melissas Sicherheitszone gewesen. Der ungefährdete Bereich, in dem sie ihr virtuelles Leben in einer digitalen Realität führte. Hier konnte ihr nichts Böses zustoßen. Gefahr und Furcht lauerten draußen.
Die Beamten verließen die Wohnung und gingen auf die Straße hinunter, auf der Melissa überfallen und ermordet worden war. Fabel musste eingestehen, dass sie sich zu Recht Sorgen gemacht hatte.
4.
Andrea wartete. Ihr pochte der Schädel durch die bewusst herbeigeführte Dehydrierung. In der vergangenen Woche hatte sie ihre Flüssigkeitszufuhr auf eine Tasse Wasser pro Tag beschränkt, damit ihr Körper auch die kleinsten Fettreserven noch verbrannte. In der Garderobe stand ein halbes Dutzend Stühle, aber sie setzte sich nicht hin. Dies war nicht der Zeitpunkt, sich auszuruhen, sondern es galt, jeden Kubikmillimeter ihres Körpers anzuschalten, ihren Willen mit ihrem Fleisch zu verdrahten. Ihr Herz hämmerte, und Strom fuhr durch jede Sehne, jeden Nerv, jede geschwollene Faser. Andrea hatte sich fünf Minuten vorher mit Hanteln aufgepumpt, und nun ging sie ihr Programm durch: die Posen, die sie auf der Bühne einnehmen würde – jede die Darbietung einer spezifischen Muskelgruppe. Andrea brauchte keine Generalprobe, um alles richtig zu machen, doch die Übung sorgte für den bestmöglichen Muskeltonus.
Zuerst die Pflichtposen: Doppelbizeps von vorn, Latspread von vorn, Bauch und Beine – eine von Andreas besten Posen wegen der klaren Definition ihrer unteren Rippen- und seitlichen Bauchmuskeln –, seitliche Brust mit Trizeps, Doppelbizeps von hinten. Dann Andreas Schwäche: wenn sie den Richtern den Rücken zudrehen musste, um ihren Latspread von hinten zu demonstrieren. Hier war die mangelnde Definition ihrer Glutei eine Enttäuschung. Aber sie hatte lange über ihr Kostüm nachgedacht. Es betonte die Seitenansicht ihrer Schulter-Hüfte-Verjüngung und lenkte die Aufmerksamkeit von ihren Glutes ab. Ihre letzte Pflichtpose war die Most Muscular. Danach würde sie sofort zur Crab Most Muscular, ihrer ersten Kürpose, übergehen.
Andrea hörte den Jubel der Menge. Die Britische Bestie hatte ihr Set beendet – und dem Klang nach mit großem Erfolg. Pfiffe. Trampeln. Das Brüllen der Menge. Maxine die Britische Bestie zu nennen war keine Beleidigung, denn es handelte sich um ihren Berufsnamen, genau wie sie selbst Andrea die Amazone hieß. Andrea und Maxine hatten gemeinsam an einer Reihe von Wettbewerben teilgenommen. Als Andrea eine Englandtournee gemacht hatte, war sie von Maxine in Nottingham aufgenommen worden, und heute würde die Engländerin in der Wohnung der Deutschen übernachten. Sie hatten zusammen trainiert und gemeinsam Schauvorführungen abgehalten. Sie waren befreundet.
Doch nicht auf dem Wettbewerbspodium. Auf dem Podium gab es keine Freundinnen. Dort draußen brauchte man niemanden und nichts außer unverfälschtem Adrenalin und Aggressivität. Und sogar Wut. Alles verborgen hinter dem breitesten, fröhlichsten, einfältigsten Grinsen. Dort draußen wurde Andreas Freundin Maxine schlicht zur Britischen Bestie. Zu der Konkurrentin, die geschlagen werden musste.
Andrea hörte neuen Jubel, als die nächste Bewerberin erschien. Dann war sie selbst an der Reihe. Sie brauchte die Aggressivität und den Zorn. Andrea wusste, wo sie ihn finden konnte. Der Schalter ließ sich beliebig anknipsen. Sie brauchte sich nur zu erinnern. Während Andrea wartete, bis sie aufgerufen wurde, ließ sie es zu, dass das lodernde Feuer ihres Hasses und Zorns ihren Körper mit mächtigen Wellen erfüllte.
Das Klopfen kam, und ein Angestellter der Ausstellungshalle riss die Tür weit auf für Andrea. Sie glich einer Löwin, die ins Kolosseum geschickt wurde. Während Andrea die Amazone mit langen, kraftvollen Schritten an dem Angestellten vorbeimarschierte, hörte sie ein trotziges, tierisches Brüllen. Dann begriff sie, dass es ihre eigene Stimme war.
5.
Maria vermutete, dass man sie in den Kofferraum irgendeines Autos gestopft hatte, doch selbst dieser Gedanke schien sich zu verflüchtigen. Tatsache war, dass jemand ihre Handgelenke und
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