Jan Fabel 05 - Walküre
Skizzenheft.
Hinsichtlich der St.-Pauli-Morde hatte Fabel beschlossen, sich näher mit Jake Westland zu beschäftigen. Aus der Akte erfuhr er, dass Westland Brite war, 1953 geboren, allem Anschein nach unehelich, weil er sofort zur Adoption freigegeben und von mittelständischen Eltern in Hampshire aufgezogen worden war. Musikstudium in London, Gründung der ersten Band 1972, der zweiten 1978, Start einer Solokarriere 1981. Zwei goldene, eine Platinschallplatte. Dreimal verheiratet. Vier Kinder aus zwei dieser Ehen.
Fabel wusste, dass die Fakten allein nicht ausreichten. Aber im Moment hatte er einfach nicht die Zeit, nach England zu reisen, um mit Westlands Angehörigen und Freunden zu sprechen. Falls er Glück hatte und die Frau des Popsängers nicht zu erschüttert war, würde er in ein paar Tagen mit ihr sprechen können, wenn sie die Leiche abholte.
Um die Informationen in der Akte zu ergänzen, nahm Fabel eine Internetrecherche über Westland mit seinem Bürocomputer vor. Aus den Einzelheiten setzte er das Bild eines Mannes zusammen, der ihm nicht gefiel. Westland war allen Angaben zufolge arrogant, rechthaberisch und egozentrisch gewesen. Kein Wunder, denn als erfolgreicher Künstler benötigt man ein Ego, mit dem sich ein Stadion füllen lässt. Das Problem war nur, dass Westland keine Stadien mehr füllte. Seine Veranstalter hatten die Hallen, in denen er auftrat, verkleinert. Diese Strategie sorgte dafür, dass er hin und wieder immer noch ein volles Haus bekam.
Aufgrund seiner Informationen konnte Fabel im Geist eine Ruhmeskurve des britischen Sängers zeichnen, die Mitte der Achtzigerjahre ihren Höhepunkt erreichte. Danach war seine Popularität, wenn auch nicht sein Vermögen, rasch geschwunden. Jake Westland wäre vermutlich schon sehr bald passe gewesen. Bevor er die Bühne für immer und spektakulär in einer dunklen Kiezgasse verließ, hatte er kaum noch Schlagzeilen gemacht. Auf einen Versuch des Sängers, Schauspieler zu werden, hatte die Presse höhnisch reagiert. Nur einmal kehrte er in die öffentliche Aufmerksamkeit zurück: als sein schäbiges Sexualleben die britischen Boulevardzeitungen erregte. Sein nachlassender Einfluss hinderte ihn jedoch nicht daran, vor allen, die ihm zuhören wollten, hochtrabende Reden über soziale Probleme zu halten.
Fabel überflog das Hintergrundmaterial, das Anna über den Auftritt in der Sporthalle zusammengetragen hatte. Die Wohltätigkeitsorganisation, die von dem Konzert profitierte, hieß Sabinerinnen-Stiftung: eine Kriegserklärung gegen Kriegsvergewaltigungen. Aus Annas Bericht ging hervor, dass die Organisation dem Zweck diente, den Opfern militärischer oder völkermörderischer Vergewaltigungen von Bosnien bis nach Ruanda zu helfen.
Die Veranstalterin des Konzerts war eine Frau namens Petra Meissner gewesen. Der Name kam Fabel bekannt vor. Er klickte sich durch die Chronik seiner Internetsuche und fand ein Foto von Westland mit Petra Meissner, das in einem der britischen Massenblätter erschienen war. Sie war eine attraktive Frau von Mitte vierzig mit kurz geschnittenem dunklen Haar. Das Foto wirkte recht harmlos - Westland und Meissner besuchten gemeinsam eine Veranstaltung zugunsten von Meissners Organisation -, aber in der englischen Überschrift hieß es: »Wer ist das Hunnchen, Jake?« Und natürlich wurde in dem Artikel herausgestellt, dass Westlands Begleiterin Deutsche war. Es folgten allerlei geschmacklose Witze über den Krieg - die übliche Hirnlosigkeit. Fabel liebte alles an Großbritannien - außer der Presse. Und außer der Tatsache, dass die Briten als Nation für immer in der Vergangenheit stecken geblieben zu sein schienen.
Sonst konnte Fabel wenig Bemerkenswertes über Westland entdecken, abgesehen von dem ausgeprägten Geschäftssinn des Engländers. Er mochte ein mittelmäßiger Sänger und ein noch schlechterer Schauspieler gewesen sein, aber er hatte kluge Kapitalanlagen getätigt. Westlands Backlist und seine jüngeren CDs hatten ihm ein respektables Einkommen von seiner Fangemeinde gesichert, doch seine Haupteinnahmen erzielte er mit Firmenbeteiligungen. Anscheinend waren nicht Anlageberater für diesen Erfolg verantwortlich, sondern Westland selbst, der ein gutes Auge für vielversprechende Unternehmensideen oder ungewöhnliche, den meisten Investoren zu riskante Beteiligungen gehabt hatte.
Es schneite wieder, und obwohl die Straßen geräumt worden waren, lag eine weiße
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