Jan Fabel 05 - Walküre
gegenüber Zufällen zu sein. Wenn ich auf ein zufälliges Zusammentreffen von Umständen stoße, lässt sich meistens eine Verbindung zwischen ihnen herstellen. Und für mich ist es ein verdammt gigantischer Zufall, dass Jespersen hier nach einer Mörderin Ausschau hält, während gerade eine in St. Pauli herumläuft.«
»Aber geht es hier nicht um völlig unterschiedliche Typen von Täterinnen?«
»Wirklich?«, fragte Fabel. »Bevor Karin Vestergaard und Jespersen vor sechs Jahren Goran Vujacic verhaftet haben, erzählte er von einer Auftragsmörderin namens Walküre. Er meinte, sie habe ihre Aufträge sehr glatt abgewickelt. Manchmal habe es nach Unfällen und manchmal nach Selbstmorden oder nach einem natürlichen Tod ausgesehen. Und wenn Jake Westland und Armin Lensch nicht Opfer des Engels von St. Pauli oder des Engels Nummer zwei waren ...«
»Bitte? Sie sollen Opfer einer Auftragsmörderin gewesen sein? Wozu dann all die Symbolik? Warum hat sie Westland erklärt, sie sei der Engel?«
»Denk darüber nach. Genau das hat sie getan ... sie hat ihn aufgefordert, es uns mitzuteilen. Sie verletzte ihn gerade so schwer, dass er seine Botschaft noch übermitteln konnte, bevor er starb. Das klingt nicht nach einer Amateurin, oder?«
»Du meinst also, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen?«
»Das könnte sein. Vielleicht ist der Engel in Wirklichkeit die Walküre. Sie möchte uns glauben machen, dass sie wahllos mordet.«
Susanne verlor sich ein paar Sekunden lang in ihren Gedanken. »Da ist noch etwas, das mich beschäftigt«, sagte sie schließlich. »Und dadurch werden die Dinge noch konfuser. Eine andere Sache, durch die sich männliche und weibliche Serienmörder unterscheiden, ist die Dauer ihrer Tätigkeit. Männer sind durchschnittlich weniger als fünf Jahre lang aktiv, manchmal nur für ein paar Monate, Serienmörderinnen dagegen viel länger. Zehn, fünfzehn Jahre. Oder noch länger. Das ist nicht mit der ersten Mordwelle zu vereinbaren.«
»Meinst du, dass die damaligen Morde ebenfalls zweideutig sind?«
»Ja. Aber ich behaupte nicht, dass es dieselbe Mörderin ist. Noch ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Serienmördern besteht in ihrem Motiv. Bei Frauen ist das Profitmotiv das bei Weitem häufigste. Es kann also durchaus sein, dass du recht hast und diese neueren Morde das Werk einer professionellen Auftragsmörderin sind.«
10.
Sylvie Achtenhagen stellte den Duschhebel auf kalt und ließ das kühle Wasser über ihren Körper rieseln, der zu protestieren schien und eine Gänsehaut bildete. Sie stand unter der Dusche, stützte die Arme an die Wand und drückte die Handflächen an die nassen Porzellankacheln. Ihr Körper war straff und jugendlich, und sie wusste, dass er noch einige Zeit so bleiben würde. Doch mit neununddreißig Jahren wusste sie auch, dass sich der Druck auf sie langsam und heimtückisch verstärkte. Wo würde sie in zehn Jahren sein? Wahrscheinlich würde sie mit jüngeren Frauen konkurrieren und ständig über die Schulter blicken, um nach einer Journalistin Ausschau zu halten, die ihr wegnehmen wollte, was sie sich so mühsam erarbeitet hatte. Nach einer Journalistin ihres eigenen Schlages. Nach einer Frau, die Nachrichten erzeugen würde, um sie dann zu entdecken.
Als Sylvie die Kälte nicht mehr ertragen konnte und sich völlig wach fühlte, stellte sie die Dusche ab, hüllte sich in den Hotelbademantel, ging in ihr Schlafzimmer und schraubte den Verschluss eines Ginfläschchens aus der Minibar auf. Sie wohnte in einem der älteren Berliner Hotels, das eine verschlissene, müde Herrlichkeit ausstrahlte. Die Räume hatten die Doppeltüren alten Stils. Die innere Tür öffnete sich ins Zimmer, die äußere hinaus in den Korridor. Auch die Fenster waren vom alten, robusten Typ. Dadurch erweckte das Hotel den Anschein, einem früheren Zeitalter anzugehören und eine Art Anstalt zu sein.
Nachdem sie den Gin mit Tonic verdünnt hatte, ließ sie sich auf das riesige Bett sinken und widmete sich der Aufstellung, die sie von Wengert, dem prominentensüchtigen Angestellten der BStU, erhalten hatte. Als sie die Namen der Personen, die in der Zwischenzeit gestorben waren, gestrichen hatte, standen noch rund ein Dutzend Personen auf der Liste, die alle irgendeine Verbindung zu Drescher aufwiesen. Doch die Verbindungen konnten, wie Wengert betont hatte, rein zufällig sein. Drescher oder jemand
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