Jan Fabel 05 - Walküre
worden zu sein. Dabei kann die Rache durch eine wirkliche Unterdrückung ausgelöst werden oder sich gegen einen Personentyp richten, der durch Assoziation zum Angriffsziel wird.«
»Aber es gab keinerlei Verbindung zwischen den Opfern. Ihre Wege hatten sich nie gekreuzt, und sie wurden aufs Geratewohl ausgesucht.«
»Nein, das stimmt nicht, Jan. Sie wurden ausgesucht, weil sie Kunden von Prostituierten waren. Genau wie die Opfer von Aileen Wournos in den USA ungefähr zur selben Zeit. Wournos war als Kind und dann als Prostituierte misshandelt worden. Sie projizierte ihre Erfahrung auf alle Männer, die zu Prostituierten gingen, und betrachtete sie als potenzielle Misshandler. Dann tötete sie diese Männer aus Rache für das, was ihr von ähnlichen Personen angetan worden war.«
»Aber das passt nur zu der ersten Mordserie in den Neunzigern. Diesmal fehlen die Kastrationen.«
»Genau«, bestätigte Susanne nachdrücklich. »Kastration war das Kennzeichen aller Morde. Ein wesentliches Element. Wenn nun eine Nachahmerin aufgetaucht ist, warum verzichtet sie dann auf dieses Hauptmotiv?«
»Ich weiß, worauf du hinauswillst«, erwiderte Fabel. »Das macht auch mir zu schaffen. Meine Antwort ist, dass Kastrationen zu umständlich wären und zu lange dauern würden.«
»Falls sie aber der ursprüngliche Engel oder eine überzeugte Nachahmerin ist, würde sie sich bestimmt ... sagen wir ... unerfüllt fühlen, wenn sie dem Ritual der früheren Morde nicht folgte.«
»Aha«, rief Fabel. »Du meinst also, dass es bei der ersten Serie eine Rachemörderin war und dass nun jemand Nachahmungen vortäuscht?«
»Mich beunruhigt noch etwas anderes. Frauen sind im Allgemeinen weniger gewalttätig als Männer, einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Das spiegelt sich in allen Verhaltensbereichen wider, auch im Bereich der Serienmorde. Weniger als fünfzehn Prozent aller Gewaltverbrechen werden von Frauen begangen. Und nur einer von sechs Serienmördern ist eine Frau. Von ihnen greift die überwältigende Mehrheit zu Mordmethoden, die keinen direkten Körperkontakt erfordern - meistens zu Gift. Wenn sie jedoch direkte Körpergewalt anwenden, ersticken oder erdrosseln sie ihre Opfer vorwiegend. Zugegeben, Wournos hat eine Pistole benutzt, aber der entscheidende Punkt ist, dass Frauen ihre Opfer im Gegensatz zu männlichen Serienmördern in der Regel nicht aufschlitzen, erstechen oder zu Tode knüppeln. Sowohl die in den späten Neunzigern als auch die jetzigen Morde sind äußerst brutal und blutig.«
»Und auch sehr effektiv«, sagte Fabel.
»Das entspricht dem Muster, die Brutalität jedoch nicht.«
»Ich bin von Ulrich Wagner angerufen worden - dem Mann beim BKA, der gemeinsam mit mir für den Aufbau der Supermordkommission zuständig ist. Er hat mir mitgeteilt, dass eine Frau aus der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie in Mecklenburg ausgebrochen ist. Ich habe sie offiziell in den Kreis der Verdächtigen für diese Morde aufgenommen. Ihre Flucht und das Vorgehen bei ihren Taten vor der Einweisung waren typisch für eine sehr planvoll handelnde Mörderin. Außerdem gehört sie der vierten Gruppe von Serienmörderinnen an. Sie ist geisteskrank, was bedeutet, dass wir nichts ausschließen können. Übrigens hat sie drei Opfer kastriert.«
»Also käme sie für die erste Mordserie infrage, nicht für diese.«
»Genau. Und während der gesamten Dauer der ersten Serie war sie in der geschlossenen Abteilung verwahrt.«
»Mir leuchtet ein, warum sie zu den Hauptverdächtigen gehören könnte. Aber trotzdem passt die Gewalt dieser Überfälle irgendwie nicht zum weiblichen Verhalten.«
»Was soll das heißen? Dass wir einen als Frau verkleideten Mann suchen?«
»Nein, Jan«, erwiderte Susanne. »Ich behaupte nicht, dass es keine Frau ist. Aber bist du nie auf den Gedanken gekommen, dass wir es vielleicht gar nicht mit einer Serienmörderin zu tun haben?«
»Allerdings«, sagte Fabel. Er ließ seinen Wein im Glas herumwirbeln und betrachtete das Schauspiel. »Die Sache ergibt keinen Sinn, ich weiß, aber hab Geduld ... Du erinnerst dich an Jens Jespersens Tod?«
»Natürlich. Das ist doch der Grund für Karin Vestergaards Besuch in Hamburg.«
»Ganz recht. Und ich habe das Gefühl, dass sein Tod irgendwie mit unseren anderen Fällen zusammenhängt.«
»Aber es gibt doch nicht die geringste Ähnlichkeit...«
»Ich bin seit Langem Polizist, Susanne, und ich habe gelernt, misstrauisch
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