Jan Fabel 06 - Tiefenangst
bereitwillig zugab, hatte er selbst einen Hang zu großer Pünktlichkeit, doch sein Chef ließ jede Atomuhr nachlässig wirken.
Fabel konnte erraten, was van Heiden von ihm wollte: Ebenso viel Wert wie auf eine exakte Zeitplanung legte der Kriminaldirektor darauf, über sämtliche Entwicklungen in jedem halbwegs aufsehenerregenden Fall unterrichtet zu werden, und unzweifelhaft hatte man ihm bereits über die Leiche unten am Fischmarkt Meldung gemacht.
Als Fabel das Hauptkonferenzzimmer am Ende des Korridors der Mordkommission betrat, hatte sich sein Team bereits versammelt. Das Konferenzzimmer war geräumig und in neutralen Tönen gestrichen: sauber, doch langweilig, irgendwo zwischen leinenfarben und beige. Einen auffälligen Kontrast dazu bildeten zwei große, rahmenlose Gemälde an der Seitenwand, deren lebhafte Farben den Betrachter geradezu ansprangen. Die beiden abstrakten Bilder hätte Fabel als »Unternehmenskunst« bezeichnet: zu finden in den Empfangsbereichen von Banken, Versicherungsgesellschaften, Werbeagenturen und Steuerberaterbüros, wo sie die Besucher davon überzeugen sollten, dass sie sich in einer zeitgemäß aufgewerteten Umgebung aufhielten.
Die breiten Fenster des Konferenzzimmers blickten über die Baumkronen des Winterhuder Stadtparks hinweg. Eine Kanne mit Eiswasser, eine weiße Thermoskaffeekanne und etliche Tassen – sie sahen aus, als stammten sie von Ikea – standen auf einem Kirschholztisch. Die um den Tisch herum sitzenden Beamten hatten Klemmbretter und Notizbücher wie Gedecke vor sich liegen.
Fabel nahm am Kopf des Tisches Platz, ein elektronisches Whiteboard hinter sich, und kam sich vor, als würden sie gleich monatliche Absatzziele oder den Start einer neuen Produktlinie oder einer Werbekampagne erörtern. Die ganze Welt schien geschäftlich zu werden. Politiker, Mediziner und nun sogar Polizisten vermittelten alle den Eindruck, als wollten sie etwas verkaufen. Das Geschäft der Polizeiarbeit.
Er war erst achtundvierzig Jahre alt, doch manchmal hatte er das Gefühl, ein oder zwei Jahrzehnte zu spät geboren worden zu sein. Alles erschien ihm weniger real als am Anfang seiner Karriere. Er bemerkte, dass sich sogar die rebellische Anna Wolff nun konservativer kleidete. Jede Rebellion endete offenbar in resignierter Konformität.
Außer Fabels regulärem Team saß ein großer, dünner Mann am anderen Ende des Kirschholztisches. Er musste Anfang vierzig sein, legte jedoch einen Ernst an den Tag, der ihn im Verein mit seinem konservativen Anzug und seinem hageren, aus knochigen Winkeln bestehenden Gesicht älter aussehen ließ. Fabel hatte dem Besucher beim Eintreten zugenickt.
»Kannst du das Ding für mich bedienen?«, bat er Anna, um sich nicht selbst dem Whiteboard widmen zu müssen. Wie so vieles, hatte sich auch die Technologie an Fabel herangeschlichen: Irgendwann war der Mord digitalisiert worden.
»Okay …« Er stand auf. »Der sogenannte Network-Killer. Wir haben drei Opfer, und ihr alle kennt die bisherige Vorgeschichte der Morde. Jedem Ermittlungsteam ist eine Fallakte zugewiesen worden. Aber bevor wir beginnen, muss ich euch mitteilen, dass wir heute Morgen eine weitere Leiche aus dem Wasser geborgen haben. Oder besser gesagt, das Wasser hat uns heute Morgen eine Leiche geliefert. Sie wurde durch den Sturm am Fischmarkt angeschwemmt.«
Ein leises Stöhnen war vom Team zu hören.
»Toll …«, ließ sich ein bulliger Mann vernehmen, der die Schultern hochgezogen hatte und die Ellbogen auf den Konferenztisch stützte. Er war Ende fünfzig mit grauem, kurz gestutztem Haar und erinnerte an einen Boxer. Oberkommissar Werner Meyer, Fabels Stellvertreter. »Noch eine.«
»Wahrscheinlich nicht«, warf Anna ein. »Die Leiche heute Morgen war nur ein verstümmelter Rumpf. Kein Kopf, keine Beine oder Arme. Wenn wir irgendwas über unseren Mann wissen, dann doch wohl, dass er nicht von seinem Muster abweicht.«
»Vielleicht nicht.« Fabel bedachte Anna mit einem bedeutungsvollen Blick. »Die Leiche sieht unzweifelhaft anders aus, und das heißt wahrscheinlich, dass es jemand anders getan hat. Deshalb hat es keinen Zweck, sie in diesen Fall einzubeziehen, bevor wir nicht die vollständigen Spurensicherungs- und Autopsieberichte haben. Meine Hauptbefürchtung ist, dass es sich vielleicht um einen Nachahmungstäter handelt. Oder es ist unser Mann, und er experimentiert schlicht mit seiner Kunst. Aber wie Kommissar Wolff so hilfreich hervorhebt, weicht unser Mörder
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