Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Blinden. Der vorsätzlich Blinden. Niels hingegen hatte sein ganzes Leben hindurch eine andere Sichtweise gehabt.
Die Beschützer Gaias hatten es geschafft, Niels’ Wut und Frustration nutzbar zu machen, ihnen eine Form und einen Zweck zu verleihen. Er war ein wandelndes – oder hinkendes – Beispiel dafür, was der arrogante Missbrauch der Umwelt durch den Menschen angerichtet hatte. Die Ärzte hatten versucht, ihm etwas anderes einzureden, doch er wusste, dass die Chemikalien in der Fabrik, in der seine Mutter gearbeitet hatte, schuld waren. Sie hatten die Probleme bei seiner Geburt und seinen Gehirnschaden verursacht.
Er war nicht etwa dumm. Der neurologische Schaden hatte lediglich zu einer begrenzten Lähmung und einem leichten Hinken geführt. Aber er litt auch unter anderen, schwerwiegenderen Symptomen. Vom Anfang seines Lebens an war es ihm schwergefallen, Informationen zu verarbeiten und unmittelbar auf seine Umgebung zu reagieren. Die Ärzte hatten von minimalen Entwicklungsproblemen gesprochen. Da war zum Beispiel das Déjà-vu. Jeder kannte das Phänomen, doch Niels erlebte es jeden Tag, manchmal sogar zwanzigmal innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Es war, als würden seine Schaltungen jeden Tag kurzgeschlossen. Phasenweise hatten sich seine Déjà-vu-Erlebnisse zu einer ausgeprägten reduplikativen Paramnesie ausgewachsen.
Zu Beginn seiner Teenagerzeit hatte Niels Episoden der Depersonalisation durchgemacht und geglaubt, nicht wirklich zu existieren. Oft verfolgte ihn die Wahnvorstellung, nicht mehr in seinem realen Zuhause, sondern in einer exakten Nachbildung davon zu wohnen. Und die Nachbildung war, wie ihm schien, Millionen Lichtjahre von der Realität entfernt. Eine Zeit lang war er in der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses Hamburg-Eilbek behandelt worden, zuerst mit Lithium und dann mit Immunoglobin und Kortikostoroiden. Die Wahnvorstellungen schwächten sich ab, ohne jedoch völlig zu verschwinden. Aber Niels lernte, mit ihnen fertig zu werden. Die Déjà-vu-Erlebnisse dagegen blieben so ausgeprägt wie immer.
Seine psychische Erkrankung isolierte Niels in der Schule, sodass er ohne Freunde heranwuchs. Oder fast ohne Freunde, denn er hatte Kontakt zu Roman, dem dicken Jungen, der ebenfalls ein Einzelgänger gewesen und sogar Niels seltsam vorgekommen war. Sie hatten einander im Grunde nicht gemocht, aber sie waren sich einer gewissen Gemeinsamkeit bewusst gewesen.
Nach der Schule, als Niels für das Forstamt arbeitete, fixierte er sich auf die Umwelt. Er begann, seine unterschiedliche Wahrnehmung der Dinge nicht als Nachteil, sondern als Vorteil zu sehen. Damals wurde ihm klar, dass er – und vielleicht nur er – erkennen konnte, was wirklich mit der Welt geschah.
Niels blickte einen Moment lang durch die kahlen Äste zum Himmel hinauf. Das Laub war in diesem Jahr an allen Bäumen der Stadt erst spät erschienen, doch dieser hier wies noch nicht einmal Knospen auf. Er hat keine Chance, dachte Niels, seine Wurzeln werden vom Asphalt eingeengt, sein Laub wird von Abgasen erstickt. Der Himmel, den er durch das Gitter aus nackten Ästen betrachtete, schien genau dem zu entsprechen, was Niels empfand. Es war eine Emotion, die er kaum beschreiben konnte: Hass und Wut und, stärker als beides, ein überwältigendes Gefühl der Frustration darüber, dass andere das, was Niels so schmerzlich klar war, nicht erkennen konnten. Und im Kern der Emotion, die in ihm brannte, schwelte ein unverfälschter Kummer: eine Trauer um einen Tod, den er vorhersehen, doch anscheinend nicht verhindern konnte.
Aber auch wenn sich die Emotion nicht genau erfassen ließ, so war es doch möglich, sie zum Ausdruck zu bringen. Davon war er nicht mehr lange entfernt.
Niels konzentrierte sich wieder auf das Mercedes-Cabriolet. Neu, vielleicht nur ein paar Wochen alt. Poliert. Es wurde auf der anderen Straßenseite geparkt. Der Mann, der aus dem Wagen stieg, sah genauso aus, wie man es von jemandem erwartete, der ein teures Statussymbol vor einem demonstrativ modischen, gekünstelt alternativen Café im Schanzenviertel abstellte: Er war Mitte dreißig, trug keine Krawatte, aber einen Designeranzug, der zu dem Auto passte, doch in einer traditionellen Vorstandsetage fehl am Platz gewirkt hätte. Er war typisch für das Dotcom-Zeitalter, voll im Trend, modebewusst, der Vertreter einer Zukunftsbranche. Vor zehn Jahren hätte er einen Pferdeschwanz gehabt.
Niels verachtete solche Leute noch mehr, als er
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