Jan Fabel 06 - Tiefenangst
SMS kam von deiner Nummer.«
»Mag sein, aber ich habe sie nicht geschickt. Bestimmt nicht. Vielleicht hast du doch irgendwo eine Blondine versteckt, und sie teilt dir mit, wo ihr euch treffen sollt. Gibt es dort nicht ein wirklich gutes Restaurant?«
»Ich meine es ernst, Susanne.«
»Ich auch«, erwiderte sie nachdrücklich. »Ich habe dir keine SMS geschickt. Ach, Jan, du weißt doch, welche Probleme du mit der Technik hast. Es hat ewig gedauert, bis ich dir beigebracht hatte, einen MP3-Player zu bedienen, und nun wärst du ohne ihn verloren. Die Nachricht kann nicht von mir gekommen sein. Frag mal bei der Arbeit nach. Vielleicht war es Anna Wolff. Weißt du was? Manchmal habe ich das Gefühl, dass Anna nichts gegen ein Rendezvous mit dir an der Poppenbütteler Schleuse hätte.«
»Anna?«, schnaubte Fabel. »Da liegst du völlig daneben. Für eine Psychologin hast du eine lausige Menschenkenntnis. Aber ich werde mich morgen im Büro erkundigen, ob mir jemand von dort die Nachricht geschickt hat.«
Fabel merkte, dass er sich bereits Stade näherte. Er hasste es, am Lenkrad zu telefonieren. Trotz der Freisprechanlage schien er der Straße nicht mehr seine ganze Aufmerksamkeit widmen zu können. Zumal er darüber grübelte, wer ihm die mysteriöse SMS gesandt hatte und warum.
»Ich muss auflegen. Ich melde mich morgen wieder«, sagte er. »Schlaf gut.«
Der Himmel hatte sich ein wenig gelichtet, und die Sonne stand bereits niedrig und schminkte das Städtchen Stade rot. Es war wahrscheinlich seit Langem die einzige rote Schminke, mit der sich der Ort geschmückt hatte. Stade war ein schläfriges, malerisches Städtchen voller Kanäle, Pflasterstraßen und mittelalterlicher Giebelhäuser. Es lag am Rand des Alten Landes südöstlich der Elbmündung, ungefähr vierzig Kilometer westlich von Hamburg. Orte wie Stade behagten Fabel, denn sie sprachen den Historiker in ihm an. Über tausend Jahre alt, gehörte das Städtchen zu den ältesten Siedlungen Norddeutschlands. Es war zu verschiedenen Zeiten eine Hansestadt, in dänischer Hand und eine schwedische Festung. Nun befand es sich im Einzugsbereich der Großstadt Hamburg, doch nichts schien es allzu sehr verändern zu können. Ruhig, hübsch und bedächtig lag es an den Ufern der Schwinge, von wo es den Zeitläufen und den menschlichen Torheiten mit würdevoller Gelassenheit zusah.
Fabel fluchte, während er durch das alte Stadtzentrum fuhr. Er hatte Müller-Voigts außerhalb liegendes Haus schon früher besucht und brauchte die Stadt nicht zu durchqueren, um es zu erreichen. Weil er sicher gewesen war, es mühelos finden zu können, hatte er sich nicht die Mühe gemacht, die Adresse in sein Satnav einzutippen, das er fast nie benutzte. Er fand, dass nichts menschlicher war, als sich selbst zurechtzufinden, und dass man einige der besten Erfahrungen und Entdeckungen machte, wenn man vom Weg abkam. Das ist ja grundsätzlich alles schön und gut, dachte er, aber nicht, wenn man deshalb zu spät zu einem Termin mit einem der einflussreichsten Politiker Hamburgs kommt.
Er ließ das schmucke Zentrum von Stade hinter sich, schaffte es, sich außerhalb der Stadt zu orientieren, und fuhr ein schmales, gerades Straßenband neben der hohen Böschung eines Kanals entlang. Die Sonne, durch die Baumwipfel gefiltert, drang durch einen Schlitz klaren Himmels zwischen der flachen Landschaft und einer dazu parallel stehenden dunklen Wolkenbank. Die Bäume an der Straßenseite rückten zu einem dichten Keil zusammen, und Fabel schwenkte in die lange Auffahrt ein, die, wie er wusste, zu Müller-Voigts Haus führte.
Es sah genauso aus wie in Fabels Erinnerung: groß, imposant, modern, nichts als Winkel und Glas. Und was nicht aus Glas bestand, schien mit blauem Marmor bedeckt zu sein. Doch Fabel wusste von seinem letzten Besuch, dass es in Wirklichkeit eine Fassade aus Solarpaneelen war.
Es handelte sich um ein Gebäude, mit dem sich Architekten gern schmückten. Eine Mischung aus Meisterwerk und solider Kapitalanlage.
Müller-Voigt trug Chinos, ein blaues, langärmeliges Schnürhemd mit einem weißen T-Shirt darunter und Segeltuchschuhe. Es war eine überaus lässige Ausstattung, doch Fabel schätzte, dass sie mehr gekostet hatte als einige seiner besten Anzüge.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte der Politiker und öffnete die Tür. Genau wie bei ihrem Gespräch im Lift des Präsidiums war Fabel sofort klar, dass er einen verstörten Mann vor sich hatte. Fabel
Weitere Kostenlose Bücher