Jan Fabel 06 - Tiefenangst
war irritiert, denn er hatte Müller-Voigt noch nie verstört erlebt. Im Gegenteil, der Senator war ihm immer ruhig und entspannt erschienen. Und als Herr der Lage.
Wie eine Million anderer Deutscher hatte er Müller-Voigt in vielen belastenden Situationen gesehen und gehört. Der Hamburger Umweltsenator zählte zu den Gästen, die Produzenten von Fernsehtalkshows und Radioprogrammen liebten, denn er besaß das angeborene Talent, Statements abzugeben, die provozierend und kämpferisch wirkten, während er selbst ruhig und gelassen blieb. Es war ein Stil, der einen nonchalanten und zugleich aggressiven Eindruck hinterließ und großartige Talkshows ermöglichte. Müller-Voigt schien in einer konfliktgeladenen Atmosphäre aufzublühen, und sein Wert für die Programmmacher bestand in der cleveren Art, wie er andere Politiker aus der Reserve locken konnte. Die Talkshows endeten gewöhnlich damit, dass seine Gegner ihre Selbstbeherrschung und Selbstsicherheit zu verlieren schienen. Müller-Voigt zog dabei den größtmöglichen Nutzen aus der Binsenweisheit, dass derjenige, der die Beherrschung verliert, zugleich als Verlierer einer Diskussion dasteht. Das passierte Müller-Voigt nie.
Aber heute Abend hatte Fabel etwas anderes vor sich. Jemand anderen.
Müller-Voigt führte Fabel in ein riesiges Wohnzimmer, das mit Kiefernholz ausgekleidet war. Unter einer gewölbten Decke von doppelter Höhe verlief eine durch ein Geländer gesicherte Galerie. Wie bei seinem letzten Besuch war Fabel verärgert über ein vages Stechen kleinlicher Eifersucht, das er in dem eleganten Haus des Politikers verspürte. Elegant, aber ganz und gar umweltverträglich. Das Haus kam einem Statement gleich: Es ist cool, grün zu sein.
Sie setzten sich auf ein großes Ecksofa gegenüber den hohen Panoramafenstern. Die Sonne schien durch das Glas eine andere Tönung zu erhalten.
»Ich kann es beliebig verändern«, sagte Müller-Voigt, als habe er Fabels Gedanken gelesen. »Das ist die neueste Technologie: Energiespeicherglas. Es isoliert das Haus nicht nur und verhindert, dass Wärme entweicht, sondern es fängt auch die Sonnenstrahlen ein und verwandelt sie in Energie.«
»Aha«, erwiderte Fabel. »Sehr beeindruckend.«
»Ich weiß, viele Leute – und vielleicht gehören Sie auch dazu – meinen, dass all das nur ein Werbegag für mich ist. Dass ich mich in Wirklichkeit stärker für die politische als für die natürliche Umwelt interessiere. Normalerweise wäre es mir gleichgültig, was Sie oder sonst wer über mich denken, aber ich möchte, dass Sie mich verstehen, Herr Fabel: Ich bin aufrichtig und unwiderruflich entschlossen, dafür zu kämpfen, dass sich das Verhalten der Menschheit gegenüber der Umwelt ändert. Das ist mehr als eine nach außen hin vertretene politische Überzeugung, es entspricht meiner Lebensanschauung.«
Fabel zuckte die Achseln. »Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln.«
»Also, wie gesagt, manche tun es.« Müller-Voigts Stimme enthielt einen Anflug von Bitterkeit. »Unsere Art ist vom Weg abgekommen, Herr Fabel. Und das wird uns zum Verhängnis werden. Wir haben unsere elementarste Fähigkeit verloren, die Gesetze der Natur, der Landschaft und des Klimas um uns herum zu verstehen. Nehmen wir die Gegend hier als Beispiel.« Er winkte vage zu der Fläche jenseits der Fenster hinüber. »Ich habe dieses Haus auf der Geest gebaut – auf einer Insel aus Sand und Kies, die in der letzten Eiszeit als Moräne mitten in einer flachen Gegend aus Heide, Marsch und Moor entstand. Wenn Sie sich hier umsehen, werden Sie feststellen, dass fast jeder Ort, Stade eingeschlossen, auf der Geest erbaut worden ist.
Als die ersten Siedlungen gegründet wurden, waren unsere Vorfahren noch mit der Natur und der Landschaft verbunden. Sie konnten die Zeichen lesen und aus der Erfahrung sich wandelnder Wettermuster lernen. Und deshalb wussten sie, wo sie ihre Häuser zu bauen hatten. Wissen Sie was, diese Geesten waren für ein Jahrtausend der perfekte Schutz vor Sturmfluten. Die Marschen um sie herum wirken wie gewaltige Schwämme, und die Geesten selbst sind natürliche Hochwassersperren, gigantische natürliche Sandsäcke. Und sehen Sie all die Knicks, die sich hier an den Kanälen und Flüssen entlangziehen?« Müller-Voigt sprach von den mit Bäumen und Büschen bewachsenen Torfwällen, die das Alte Land und einen großen Teil der übrigen norddeutschen Landschaft durchzogen. »Manche dieser Knicks sind älter als die
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