Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Bett, und ich zahle nicht für billige und hässliche Tändeleien auf der Reeperbahn. Ich betrüge niemanden und behandle die Frauen, denen ich begegne, mit Respekt und Verehrung.«
»Warum erzählen Sie mir das?«, fragte Fabel. »Ihr Privatleben ist Ihre Sache.«
»Unter all den Frauen, mit denen ich im Lauf der Jahre eine Beziehung unterhielt, waren nur drei, für die ich tiefe Gefühle hatte. Wirklich tiefe Gefühle. Eine starb vor langer Zeit, und die zweite Beziehung welkte sozusagen dahin. Die dritte ist eine Frau, mit der ich bis vor zwei Wochen ein Verhältnis hatte.« Müller-Voigt stand auf, schritt durch das Zimmer zu einem Schreibtisch und kam mit einem Bilderrahmen zurück. Er hantierte einen Moment lang daran herum, bevor er ihn seinem Gast gab. Fabel merkte, dass es ein digitaler Fotorahmen war und dass Müller-Voigt ein Bild für ihn ausgewählt hatte: das einer jungen Frau mit dunklen Haaren und auffallenden blauen Augen. Sie lächelte mit weißen Zähnen in die Kamera, schien sich jedoch ein wenig unbehaglich zu fühlen. Als wäre sie schüchtern. Sie war sehr schön.
»Das ist Meliha«, sagte Müller-Voigt. »Wir waren drei Monate zusammen. Wie Sie sehen, ist sie erheblich jünger als ich.«
»Eine sehr attraktive Frau.« Fabel hielt Müller-Voigt den Rahmen hin, doch der Politiker machte keine Anstalten, ihn wieder an sich zu nehmen.
»Schauen Sie sich das Bild sehr sorgfältig an, Herr Fabel. Sie ist verschwunden.«
»Verschollen? Wie lange schon?«
»Nicht verschollen. Verschwunden. Wie erwähnt, war ich bis vor zwei Wochen mit ihr zusammen, und dann ist sie spurlos untergetaucht.«
»Und Sie befürchten, dass sie vielleicht die Leiche ist, die vom Sturm angetrieben wurde?«
»Ich weiß es nicht …« Müller-Voigt zuckte die Achseln, aber die Gebärde und seine Miene hatten nichts Abschätziges an sich. Fabel war klar, dass der Gedanke den Mann quälte. »Es ist möglich.«
»Sie haben also zuletzt vor zwei Wochen von ihr gehört?«, fragte Fabel.
»Ja … Nein.« Müller-Voigt machte eine verzweifelte Geste. »Es ist kompliziert. Vor zwei Tagen ist eine E-Mail von ihr eingetroffen. Sie hat mit mir Schluss gemacht. Oder zumindest wirkte es so.«
»Herr Müller-Voigt, ich kann Ihnen nicht folgen. Zuerst sagten Sie, diese Frau sei seit zwei Wochen spurlos verschwunden, und nun wollen Sie vor zwei Tagen eine E-Mail von ihr erhalten haben.« Fabel runzelte die Stirn. »Eines steht fest: Es ist nicht ihre Leiche, die nach dem Sturm angeschwemmt worden ist. Denn die war seit mindestens zwei Wochen im Wasser …«
»Und seit genau zwei Wochen ist Meliha verschwunden. Herr Fabel, ich wähle meine Worte sehr sorgfältig. Wenn ich sage, dass Meliha verschwunden ist, meine ich auch genau das. Ich weiß, Sie glauben, dass ich mich an Sie wende, weil ich meine Beziehungen nutzen will, um die Sache diskret untersuchen zu lassen und einen Skandal zu vermeiden. Aber darum geht es mir überhaupt nicht. Jemand hat systematisch sämtliche Spuren von Meliha verwischt. Ich kann sie offiziell nicht als vermisst melden, weil sie nicht mehr existiert. Und ich weiß, dass die E-Mail eine Fälschung ist.«
»Kann ich sie sehen?«, fragte Fabel.
Müller-Voigt lachte bitter. »Nein. Auch sie existiert nicht mehr. Ich hatte sie nicht ausgedruckt. Sie haben wahrscheinlich vom Klabautermann-Virus gehört?«
Fabel nickte. »Ich kenne den Beamten, der die Urheber ausfindig machen soll.«
»Ich kann einfach nicht begreifen, was Leute davon haben, die Daten anderer zu vernichten«, sagte Müller-Voigt. »Vermutlich ist es schlicht eine Herausforderung für sie zu beweisen, dass sie klügere Nerds sind als die Hersteller der Software … Leider gibt es da draußen Menschen, die ihre Zeit damit verbringen, immer schädlichere und zerstörerischere Computerviren zu entwickeln. Das neueste, das Klabautermann-Virus, zielt auf offizielle Intranets und sichere E-Mail-Server der Verwaltung in Norddeutschland ab. Welchem Zweck dient so etwas – außer dem, dass das Leben gewöhnlicher Bürger gestört wird? Und die kleinen Mistkerle, die dahinterstecken, wohnen vielleicht nicht einmal in der Nähe von Norddeutschland. Sie könnten sich in San José oder Mumbai oder Beijing aufhalten. Oder es ist ein pickeliger, halbwüchsiger Niemand in einem Hinterzimmer in Bönningstedt. Wer immer und wo immer sie sind, sie haben das E-Mail-System der Hansestadt infiziert. Weil ich dort eingeloggt bin, ist das Virus auf meinen
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