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Jan Fabel 06 - Tiefenangst

Titel: Jan Fabel 06 - Tiefenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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Zuhause kaum vorstellen. Jedenfalls nicht in der materiellen Welt. Zwar hatte er ein gewisses Gefühl von Dazugehörigkeit, aber es war nicht in einer greifbaren Realität verankert. Für Roman gab es ein anderes Universum der Chancen und der Freiheit von den Einschränkungen seines Körpers. Es war seine wirkliche Umwelt. Dorthin gehörte er. Dort existierte er wirklich.
    Als Roman überzeugt war, dass der Albaner tatsächlich in seine Wohnung zurückgekehrt war und nicht die Treppe heraufkam, um sich mit ihm zu streiten, verließ er seinen Posten an der Tür, schlurfte durch das verwahrloste Wohnzimmer – vorbei an Reihen von Bildschirmen, Lautsprechern, Festplatten und Tastaturen auf dem Tisch an der anderen Wand – und bahnte sich einen Weg zur Toilette. Seine Eingeweide schmerzten wie immer, wenn er gestresst war – also meistens –, und der Drang, seinen Darm zu entleeren, war stark geworden. Er steckte sich seine iPod-Kopfhörer in die Ohren, ließ seine Trainingshose fallen und senkte seine hundertachtzig Kilo schwere Masse auf die Toilette. Roman hörte seiner Musik zu, spielte Computerspiele und strengte sich an, bis seine Atmung noch mühsamer und sein Gesicht noch bleicher als sonst wurden. Nichts.
    Es war, wie sein Arzt ihm erklärt hatte, die unvermeidliche Folge von Romans Ernährung, die nichts enthielt, was auch nur entfernt so aussah, als wäre es einmal in der Erde gewachsen. Roman hatte seinem Arzt verschwiegen, dass er alles verachtete, was ihn an die natürliche Welt erinnerte; er genoss Künstlichkeit und Synthetik. Je stärker verarbeitet und vorgefertigt das Essen aussah, desto besser gefiel es ihm. Sein Fleisch hatte er am liebsten gehackt, breiig, ausgepresst. Wenn er Ballaststoffe verzehrte, dann höchstens in Form des Breis, der seine Hamburger und Hot Dogs, seine Fleischpasteten und Backhähnchen aufgehen ließ. Die Brötchen und Baguettes, die das Fleisch umgaben, mussten weiß und glatt sein, und nichts durfte darauf hindeuten, dass sie aus Getreide gemacht worden waren. Seine Vorliebe für kräftige, unnatürliche Farben bei Nachspeisen, Eis und Getränken erlaubte es ihm, sich von allem zu distanzieren, was an eine Molkerei denken ließ. Dies war der Hauptgrund dafür, dass Roman amerikanische Fastfoodlokale einheimischen Würstchenbuden oder anderen Schnellimbissen vorzog. Es war eine Wissenschaft und eine Kunst, Speisen so aussehen zu lassen, als hätten sie wenig oder nichts mit der natürlichen Welt zu tun. Und es überraschte Roman nicht, dass die Fähigkeit dazu von derselben Nation vervollkommnet worden war, die Menschen auf den Mond befördert hatte.
    Nach zwanzig Minuten war der Drang, sich zu erleichtern, nicht schwächer geworden, doch die Krämpfe in Romans Eingeweiden hatten immer noch nichts hervorgebracht. Seit seinem letzten reichlichen Stuhlgang war mehr als eine Woche verstrichen. Seufzend zog er seine Trainingshose wieder hoch, kehrte ins Wohn- und Esszimmer zurück und setzte sich an den Tisch, auf dem er seine Computer aufgestellt hatte. Es war das Tor zu jenem anderen Universum, jenen anderen Identitäten. Die Geräte zogen ihn an: die beiden 8-Core MacPros mit dem leisen Surren ihrer Innenkühlung, der massive HP, die fünf externen Festplatten, die ihm einen Datenspeicher von sieben Terabyte boten, der Bladeserver, den er selbst gebaut hatte. Seine Computeranlage, die Tausende von Euros gekostet hatte, säuselte eine Einladung in ein anderes Leben.
    Der kleine Bereich mit seinen glänzenden Apparaten war der einzige saubere und aufgeräumte Teil seiner Wohnung. Roman sorgte dafür, dass dieser Winkel seiner Umgebung staubfrei, geordnet und, im Gegensatz zu dem sonst dunklen Zimmer, erleuchtet blieb. Hier hatte er auch seine teuersten Möbelstücke untergebracht: den kräftigen Tisch, auf dem er seine Geräte aufgereiht hatte und der dem Kommandopult einer Raumfahrtzentrale glich, und den Sessel, den Roman eigens für sich hatte anfertigen lassen. Es war das teuerste Möbelstück, das er sich je geleistet hatte – sogar noch teurer als seine einzelnen Hardwaregeräte. Der Sessel schmiegte sich seinem Körper an und umgekehrt. Er drehte und neigte sich und glitt dahin, fast als reagiere er auf Romans Willen. Es sei der ultimative Computersessel, hatte man ihm im Katalog versichert. Aber die eigentlichen Kosten waren durch die Anpassung des Sessels an sein Gewicht entstanden. Die Hersteller in München hatten eigens jemanden auf die lange Reise nach

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