Jan Fabel 06 - Tiefenangst
war ein modernistisches Stück: ein stilisierter Drache. Seine Schönheit war unleugbar, doch er hatte etwas an sich, das Fabel verwirrte. Die leblose Bronzeplastik schien sich zu krümmen, wenn man sie anschaute. Fabel stellte sie wieder auf den Tisch, als Müller-Voigt aus der Küche zurück ins Wohnzimmer kam.
Er trug ein Tablett mit einer Kanne und zwei Tassen, stellte es auf dem Couchtisch ab und schenkte seinem Gast und sich Kaffee ein. Fabel bemerkte, dass die Kanne und die Tassen aus sehr feinem weißem Porzellan gefertigt waren und ein elegant-zurückhaltendes, modernes Design aufwiesen. Dies fiel ihm auf, weil er genau das gleiche Service im Alsterhaus am Jungfernstieg gesehen hatte. Er hatte es kaufen wollen, dann jedoch entschieden, dass er die Ausgabe nicht rechtfertigen konnte. Seine ostfriesische Sparsamkeit hatte über sein Hamburger Savoir-faire triumphiert.
»Gefällt sie Ihnen?«, fragte Müller-Voigt und deutete auf die Plastik. »Ich habe sie für mich anfertigen lassen. Es ist eine Darstellung von Rahab, dem alten hebräischen Seedämon. Dem Urheber von Stürmen und dem Vater des Chaos.«
»Eine seltsame Wahl.« Fabel hatte die Augen immer noch auf die Bronzefigur gerichtet und erwartete fast, dass sie sich drehte und wand.
»Die Skulptur repräsentiert meinen Feind, wenn Sie so wollen«, sagte der Politiker. »Ein Ungeheuer, das wir aus der Natur erschaffen.« Müller-Voigt reichte Fabel die gefüllte Tasse. »Wie auch immer, ich habe mich bei den Organisatoren der Konferenz erkundigt, auf der ich Meliha begegnet bin. Sie sind ihre Verzeichnisse der Delegierten und Teilnehmer durchgegangen. Das Treffen stand der Allgemeinheit nicht offen – alle Teilnehmer erhielten eine Einladung und mussten sich anmelden. Man fand nicht den geringsten Hinweis auf Meliha. Aber ich habe ihr Delegiertenabzeichen gesehen, Herr Fabel. Wir alle mussten uns dafür fotografieren lassen und wurden zusätzlich überprüft. Als Ausländerin muss sie auch ihren Pass vorgelegt haben. Übrigens war das einer der Gründe, weshalb ich Ihre Frage, ob sie illegal hier gewesen sein könnte, verneint habe. Angesichts der heutigen Sicherheitsvorschriften hätte man sie sonst niemals ins Congress Centrum gelassen. Meliha hätte wohl auf keinen Fall dort gewesen sein können, wenn man sie nicht registriert und ihre persönlichen Daten überprüft hätte.«
»Administrative Fehler kommen vor. Vielleicht sind ihre Daten versehentlich gelöscht worden«, meinte Fabel.
»Mmm … genau wie ihre E-Mail von meinem Computer verschwunden ist.«
»Das lag an einem Computervirus, von dem wir alle wissen.«
»Aber ist es nicht ein verdammt merkwürdiger Zufall?«
»Da haben Sie wohl recht.« Wenn Fabel an etwas nicht glaubte, dann waren es Zufälle.
»Und warum sollte das Klabautermann-Virus kein bestimmtes Ziel haben? Vielleicht ist es ein Instrument zur Löschung sorgfältig ausgewählter Informationen, die durch eine Massenaktion unauffällig beseitigt werden.«
Fabel lachte. »Tut mir leid, Herr Senator, aber nun geraten wir in den Bereich von Verschwörungstheorien.«
»Meinen Sie?« Müller-Voigt schenkte Kaffee nach. Fabel fand sich damit ab, obwohl er wusste, dass er es später bedauern würde. Er konnte Koffein nicht vertragen, und eine zweite Tasse würde ihn heute Nacht wach halten. Sabine scherzte häufig, der Grund dafür sei, dass er in seiner Jugend in Ostfriesland nie etwas anderes als Tee getrunken habe. Aber Fabel hatte das Gefühl, dass der Kaffee nicht das Einzige war, was ihn heute am Schlafen hindern würde.
Draußen war es nun dunkel, und Fabel bemerkte, dass die Beleuchtung im Wohnzimmer automatisch heller wurde.
»Also, Herr Müller-Voigt«, sagte Fabel, »ich muss Ihnen diese Frage stellen: Haben Sie Meliha Geld oder Geschenke oder sonst etwas Wertvolles gegeben? Vielleicht sogar Informationen, die von Nutzen für sie sein könnten …«
»Ich verstehe«, schnitt Müller-Voigt ihm das Wort ab. »Sie glauben, dass ich in eine Sexfalle geraten bin. Alter schützt vor Torheit nicht – wollen Sie darauf hinaus?«
Fabel schickte sich an abzuwiegeln, doch der Politiker hob die Hand.
»Ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Dieser Gedanke ist mir selbst schon durch den Kopf gegangen, aber die Antwort ist nein. Ich kann Ihnen versichern, dass nichts von materiellem, geschäftlichem oder politischem Wert zwischen uns ausgetauscht worden ist. Wir wurden ein Liebespaar. So einfach und so kompliziert war das. Und
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