Jan Fabel 06 - Tiefenangst
nun ist sie fort, und es fällt mir schwer, Sie davon zu überzeugen, dass sie je existiert hat. Allmählich muss ich mich sogar selbst davon überzeugen.«
»Menschen existieren entweder, oder sie existieren nicht, Herr Senator. Und wenn das Erstere der Fall ist, hinterlassen sie materielle Spuren.«
»Genau das dachte ich früher auch. Aber als mir nichts anderes mehr einfiel, habe ich mich an eine meiner Bekannten in der Behörde für Wissenschaft und Forschung gewandt. Ich bat sie, sich mit der Universität Istanbul in Verbindung zu setzen, und nannte ihr die Jahre, in denen Meliha meiner Vermutung nach dort studiert hatte.«
»Und sie hat ebenfalls eine Niete gezogen.« Fabel stellte keine Frage, sondern konstatierte den Sachverhalt.
»Deshalb habe ich betont, dass Meliha nicht verschollen, sondern verschwunden ist. Nicht nur physisch, sondern auch, wenn ich mich nicht irre, aus allen öffentlichen Unterlagen. Es ist fast so, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt und ihre Existenz ausgelöscht.«
Die beiden Männer verfielen in Schweigen. Fabel musterte seine Kaffeetasse und dachte über Müller-Voigts Worte nach. Ähnliche Geschichten waren ihm nicht fremd. Manchmal machten Menschen, verstört aus Sorge über eine vermisste Person, deren Verschwinden zum Gegenstand einer Riesenverschwörung, nur um der Sache einen Sinn abzugewinnen. Aber Fabel wusste, dass dies keiner jener Fälle war. Was Müller-Voigt ihm geschildert hatte, ergab nicht den geringsten Sinn, doch Fabel glaubte ihm jedes Wort.
»Wenn all das stimmt, was Sie sagen … Nein, lassen Sie es mich besser so ausdrücken: Wenn all das stimmt, was Sie vermuten, dann wären dazu gewaltige Mittel und eine riesige Organisation erforderlich. Sind Sie der Meinung, dass die Regierung – oder eine Regierung – dahintersteckt? Sie haben erwähnt, dass Meliha vielleicht in Dinge verwickelt war, die sie in Gefahr brachten. Was für Dinge?«
Müller-Voigt betrachtete Fabel einen Moment lang abwägend.
»Erinnern Sie sich an meine Klage darüber, dass wir früher stärker mit der Natur verbunden waren?«, fragte er. »Dass wir unsere Umwelt deuten konnten?«
Fabel nickte.
»Ich möchte, dass Sie das eine Weile im Gedächtnis behalten. Haben Sie vom Pharos-Projekt gehört?«
Fabel fiel das Plakat ein, an dem er auf der Fahrt mit Susanne zum Flughafen vorbeigekommen war: an die übertriebene Symbolik des Leuchtturms im Sturm.
»Eigentlich nicht«, erwiderte er. »Ich habe davon gehört, weiß aber kaum etwas darüber.«
»Das Pharos-Projekt ist angeblich eine Umweltschutzorganisation. Sie hat einen gigantischen Konzern, der von seinem Gründer geleitet wird, hinter sich. Die europäische Zentrale des Pharos-Projekts ist, ob Sie es glauben oder nicht, nur ein paar Kilometer von hier entfernt. An der Küste, knapp nördlich von Hörne, steht ein nicht mehr genutzter Leuchtturm. Er ist renoviert worden, und man hat daneben ein großes Gebäude errichtet, das als Europa-Pharos bezeichnet wird. Sie sollten es sich ansehen. Ein herrliches Bauwerk und natürlich ganz und gar umweltverträglich. Es ragt auf Stelzen über das Wasser. Es gibt noch ein zweites Gebäude dieser Art, an der Küste von Maine, das Amerika-Pharos genannt wird. Jedenfalls benutzt das Pharos-Projekt seinen Status einer ökologischen Forschungs- und Interessengruppe dazu, nicht als religiöse oder politische Organisation eingestuft zu werden.«
»Wollen Sie darauf hinaus, dass die Leute vertuschen wollen, dass sie eine Sekte sind?«
»Sie sind heute Fabian Menke vom BfV begegnet. Ich habe mit ihm über das Pharos-Projekt gesprochen, und er hat eingeräumt, dass es vom BfV überwacht wird. Sehr genau.«
»Und das macht Ihnen keine … na ja … Sorgen? Dass das BfV eine Umweltorganisation beobachtet? Schließlich sind Sie der freimütigste Umweltschützer Hamburgs.«
»Lassen Sie uns eines klarstellen: Das Pharos-Projekt hat nichts mit meinen Überzeugungen zu tun. Es ist tatsächlich eine Sekte. Mehr noch, es ist eine gefährliche, bösartige Sekte. Sie sollten mit Menke darüber reden.«
»Und welche Verbindung hatte Meliha zu dem Projekt?«
»Sie hat sich kaum über ihre Arbeit geäußert. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass sie als Ermittlerin für irgendeine Vereinigung tätig war. Oder vielleicht war sie auch Enthüllungsjournalistin. Aber ich habe im Internet nach ihr gesucht, und sie scheint nie einen Beitrag in der Presse oder in anderen Medien veröffentlicht zu
Weitere Kostenlose Bücher