Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Straße.
Im Vorsommer, an besonders heißen Tagen, hatte Dirk das beste Geschäft der Saison gemacht. Er hatte sich eine umfangreiche Kundschaft aus Truckern aufgebaut, die auf der Fahrt zu den Docks oder auf dem Rückweg bei ihm haltmachten. Als es passierte, arbeitete er gerade am Herd: ein schwerer Herzinfarkt, an dem er starb, bevor sein Körper auf dem Fußboden aufschlug.
In Fabels Unterbewusstsein war Dirk noch am Leben gewesen; sein Imbissstand hatte wie früher auf Kunden gewartet. Die Welt veränderte sich um Fabel herum. Und wie jeder andere, verlor er manchmal den Überblick über den Wandel. Menschen, die er für feste Größen gehalten hatte, waren plötzlich nicht mehr da. Es deprimierte und erzürnte ihn, dass er Dirks Tod einen Moment lang vergessen hatte. Das Gleiche geschah häufig, wenn er an sein Elternhaus in Norddeich dachte. Dann schien ihm sein seit Langem verstorbener Vater noch am Leben zu sein: in seinem Arbeitszimmer über eine alte Küstenkarte gebeugt, seine wackelige Brille auf der Nasenspitze. Jeder hatte ein ganzes Universum, mit dem er aufgewachsen war, im Kopf, und dort blieb es unverändert bestehen.
»Er ist nicht mehr hier.«
Fabel drehte sich verblüfft um. Eine junge Frau war aus dem Nichts erschienen und in den Lichtkegel getreten. Er blickte die Fahrbahn hinauf und hinunter, konnte jedoch kein anderes geparktes Auto entdecken.
»Bitte?«
»Er ist nicht mehr hier«, wiederholte die junge Frau. »Der Imbissstand.«
»Oh … Ja. Ich weiß.«
»Ich habe ihn auch gesucht«, sagte sie. Eine Sekunde lang überlegte Fabel, ob sie eine Prostituierte war. Aber sie war elegant mit einem dunkelgrauen Kostüm und Pumps bekleidet, als arbeitete sie in einer Bank oder bei einer Versicherungsgesellschaft. Sie hatte gepflegte, recht kurze blonde Haare und ebenmäßige Züge: attraktiv, doch nicht sehr einprägsam.
»Er ist schon seit einer Weile nicht mehr hier«, sagte Fabel.
»Ich war auch lange nicht in der Gegend.«
»Wo parken Sie?«, fragte er. »Ich habe Ihr Auto nicht …«
»Oh, dort drüben …« Sie machte eine vage Geste und zeigte dann die Straße entlang auf die Docks. »Sind Sie Polizist?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil ›Wo parken Sie?‹ eine für einen Polizisten typische Frage ist. Und der Besitzer des Standes war ein ehemaliger Polizist. Viele seiner früheren Kollegen wurden zu seinen Kunden. Und Sie sehen nicht wie ein Trucker aus.«
»Wahrscheinlich nicht. Was führt Sie hierher?«
»Wie gesagt, ich habe den Schnellimbiss gesucht. Hatte Hunger.«
»Diese Stelle liegt ein bisschen abseits.«
»Keine Stelle liegt wirklich abseits. Kannten Sie ihn gut? Den Besitzer, meine ich?«
»Sehr gut.«
»Er war ein netter Mann«, sagte sie. »Sehr …«, sie rang nach dem richtigen Wort, »… leutselig.«
Fabel fühlte sich immer unbehaglicher. Etwas an der Frau beunruhigte ihn. Fast hatte es den Anschein, als wolle sie mit ihm flirten, doch das Fehlen von Emotionen in ihrem Gesicht ließ ihn an Reisch denken, den Mann im Rollstuhl, der einen erschreckend klaren Ausblick auf seine unmittelbare Zukunft hatte.
»Ich verstehe immer noch nicht so recht, was Sie hier tun.« Er zückte seinen Polizeiausweis und klappte ihn auf. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern Ihren Personalausweis sehen.«
»Und wenn es mir etwas ausmacht?«
»Möchte ich ihn mir trotzdem gern ansehen.«
»Ich verstehe nicht, warum meine Anwesenheit Sie stört. Schließlich bin ich nicht jemand, der in der Vergangenheit lebt und vergessen hat, dass sein Freund tot ist.«
Fabel erstarrte. »Okay, Ihren Personalausweis!«
»Wie Sie wollen.« Die Frau lächelte, aber ihre Freundlichkeit war gekünstelt. Sie griff in ihre Schultertasche und reichte ihm ihren Ausweis. Fabel erfuhr, dass sie Julia Helling hieß und in Eppendorf wohnte. »Ich habe nur Konversation gemacht. Oder habe ich mir etwas zuschulden kommen lassen?«
»Nein, Frau Helling. Aber Sie sollten vorsichtiger sein. Dies ist nachts ein einsamer Ort, und Sie sollten nicht allein hierherkommen.«
»Aber ich bin doch nicht allein, oder? Ich habe Polizeischutz. Oder befürchten Sie etwa, dass ich mich mit dem Network-Killer verabredet habe?«
»Das ist eine sehr seltsame Bemerkung.«
»Wirklich? Schließlich machen Sie sich Sorgen um meine Sicherheit, und er ist im Moment überall in den Medien präsent.« Sie seufzte. »Egal, ich werde Sie nicht weiter stören. Gute Nacht, Herr Hauptkommissar.«
»Woher
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