Jan Fabel 06 - Tiefenangst
hat. Und es ist tatsächlich kein bloßer Zufall, dass alle offiziellen Unterlagen – sämtliche computerisierten Belege für die Existenz dieser Frau in Deutschland – in demselben Schwarzen Loch verschwunden sind wie meine SMS. Es ist auch ein merkwürdiges Zusammentreffen, dass Virtual Dimension, diese verdammte Rollenspiel-Site, in die alle Opfer des Network-Killers eingeloggt waren, ebenfalls dem Korn-Pharos-Konzern gehört.«
»Glaubst du, dass die Sekte dich auch ins Visier genommen hat?« Susanne hob die Augenbrauen.
»Vielleicht vermuten sie, dass Müller-Voigt zu viel wusste und einiges davon an mich weitergegeben hat – dass ich anfangen könnte, mich in dunklen Winkeln umzuschauen. Leider bin ich nicht so clever oder gut informiert, wie sie annehmen.«
»Aber du bist Polizist, Herrgott noch mal. Sie können doch nicht riskieren, sich mit der Polizei oder der Regierung anzulegen.«
»Nach allem, was ich bis jetzt herausgefunden habe, haben das Pharos-Projekt und der Korn-Pharos-Konzern ein hundertmal höheres Budget und zehnmal mehr Personal als die Polizei Hamburg. Dies ist nicht bloß irgendein Wirtschaftsunternehmen oder ein Spinnerkult, sondern … Es ist eher ein Staat, aber ohne räumliche Grenzen. Ich würde Pharos und seine Bereitschaft, seine Ziele zu erreichen, nicht unterschätzen. Das wäre ein verheerender Fehler.«
»Wenn du und Menke so sicher seid, dass Pharos hinter allem steckt, warum kannst du dann niemanden von denen vernehmen?«
»Nach meinem Verhör durch van Heiden habe ich mit der Generalstaatsanwaltschaft gesprochen. Wir haben einfach noch nicht genug Material, um einen Haft- oder Durchsuchungsbefehl zu rechtfertigen. Außerdem ist die Rede von einem Konzern und einer Sekte und zahlreichen Personen, nicht von Individuen. Wir sind noch weit davon entfernt, jemanden mit den Taten in Verbindung zu bringen.« Er lachte bitter. »O nein, ich habe vergessen, dass wir gar nicht so weit davon entfernt sind. Wir haben eine mit Fingerabdrücken bedeckte Bronzeskulptur in der Asservatenkammer. Unglücklicherweise sind es meine Fingerabdrücke. Und meine Begründung dafür, dass ich am Abend von Müller-Voigts Ermordung in seinem Haus war, stützt sich auf eine Frau, die nicht existiert.« Nachdem Fabel seiner Frustration Luft gemacht hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Entschuldige. Jedenfalls haben wir nicht genug Anhaltspunkte, mit denen wir eine richterliche Anordnung erwirken könnten, und selbst wenn wir sie hätten, wüssten wir nicht, nach was oder wem wir suchen sollen.«
Susanne ging zu ihm und strich ihm eine blonde Locke aus der Stirn. »Du wirst es schon schaffen. Mach dir keine Sorgen. Geh vor wie immer und behalte die große Perspektive im Auge. Niemand kann das besser als du. Hast du Hunger?«
Fabel schüttelte den Kopf. »Ich muss noch einiges lesen.« Er ließ den Ordner auf den Küchentisch fallen. »Vielleicht hast du recht, aber ich fürchte, dass diese Perspektive sogar für mich zu groß sein könnte.«
Während Fabel die BfV-Akte las, schien er immer tiefer in etwas viel Komplexeres hineingezogen zu werden, als er es sich je hätte ausmalen können. Denn er hatte es mit einer Weltanschauung zu tun, die er nicht verstand.
Er konzentrierte sich erneut auf das, was Anna und Müller-Voigt ihm bereits berichtet hatten: wie Dominik Korn, der einsiedlerische, geniale Milliardär mit amerikanischer und deutscher Staatsbürgerschaft, das Geschäftsimperium seines Vaters übernommen und es zum Korn-Pharos-Konzern, der führenden Umweltschutztechnologie-Gruppe der Welt ausgebaut und Millionen in Umweltprojekte investierte hatte, darunter das verhängnisvolle Pharos One, das die wahren Folgen von Öl-Tiefseebohrungen ermitteln sollte. Korns Befürchtungen hatten sich durch das Desaster der BP-Bohrinsel Deepwater Horizon im Golf von Mexiko bewahrheitet, aber die Jungfernfahrt von Korns Tauchboot war ebenfalls zu einer Katastrophe geworden, bei der er infolge seines ungeschützten Auftauchens schwerste neurologische Schäden erlitt.
Danach hatte kaum noch jemand Dominik Korn zu Gesicht bekommen. Er war monatelang dem Tode nahe gewesen und erschien, ungefähr ein Jahr nach dem Unfall, nur einmal kurz auf einer Pressekonferenz: im Rollstuhl sitzend und mit einer Computerstimme sprechend. Diesen einen Auftritt nutzte er zu einem Appell an die Menschheit, sich aus der Umwelt zu lösen und ihren Einfluss auf die Natur auf null zu reduzieren. Ein unmögliches
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