Jan Fabel 06 - Tiefenangst
höchstwahrscheinlich eine geringe Cyber-Identität oder überhaupt keine. Je jünger jemand war, desto natürlicher war es für ihn, das Internet als wichtiges soziales Medium zu nutzen und eine cyber-radiative Signatur mit mehr »Masse« zu besitzen. Roman dachte inzwischen in ähnlicher Weise über das Internet nach wie die Physiker über Raum und Zeit. Es war ein Kontinuum, in dem Menschen und Ideen eine Masse besaßen, die ein eigenes radiatives Feld hervorbrachte. Jeder Grad von Verbindungen war vorhanden, jede Person war mit einem Kreis anderer verknüpft, jeder Kreis überschnitt sich mit anderen Kreisen, die sich im Cyberspace verbreiteten. Und im Innern jeder Präsenz gab es einen Namen: das Quantum der Identität, das kleinste unteilbare Selbst. Menschen wurden zu einer Ausstreuung von Fakten. Der Kern war ihr Name, der Mittepunkt ihrer Identität, aber sie konnten mit verschiedenen Usernamen auch anderswo erscheinen, gleichzeitig an mehreren Orten existieren, ohne wirklich an einem einzigen vorhanden zu sein. Genau, dachte Roman, wie bei der quantenmechanischen Überlagerung.
Aber wie verschwommen eine Identität oder wie irreführend der Username in ihrem Kern auch sein mochte, immer gelang es Roman, diese Identität ausfindig zu machen und ihr Gestalt zu verleihen. Wenn seine ausgedehnten Studien, sein Surfen und seine Diebstähle ihm die Zeit ließen, suchte er sich manchmal eine beliebige Person aus einem sozialen Netzwerk aus. Er fahndete nach Berührungspunkten mit anderen, zum Beispiel nach gemeinsamen Freunden und identischen Aufenthaltsorten. Oft konnte er auch auf Bankkonten, Vereinsmitgliedschaften oder Spenden zugreifen. Seine Software konnte eine Million alphanumerischer Passwort-Permutationen pro Minute ausprobieren. Und wenn er das Passwort eines Benutzers für eine Website gefunden hatte, stellte er gewöhnlich fest, dass es auch für eine Reihe anderer – manchmal für alle – gesicherte Zugänge dieser Person galt. Die meisten verwendeten nur zwei Passwörter, die beide nach ihrer Einprägsamkeit gewählt wurden, und dadurch konnten sie leicht geknackt werden. Es war erstaunlich, was Roman herausfinden konnte, sogar ohne allzu sehr in die Tiefe zu gehen. Das Web ließ, wie er erkannt hatte, die Ichbezogenheit jedes Menschen hervortreten. Jede Stimme, die in der realen Welt ungehört blieb, brüllte hier ihre Meinungen heraus.
Aber er konnte die Frau nicht entdecken. Nirgendwo. Sie existierte einfach nicht.
Als Erstes hatte er die Roamingfunktion des Handys ausgeschaltet, das er aus dem Café mitgenommen hatte. Roman war inzwischen überzeugt, dass die schöne Frau es absichtlich zurückgelassen hatte, und der einzige Grund dafür war wohl der, dass sie befürchtete, aufgespürt zu werden. Er selbst hatte eine Handy-Identifizierungssoftware, die ihm erlaubte, die Position eines Mobiltelefons auf zehn Meter genau zu bestimmen. Wenn seine Vermutungen über die Frau zutrafen, dann versuchte jemand, ihr Handy zu lokalisieren. Roman hatte sich sehr vorsichtig verhalten, da es nicht notwendig war, ein Gespräch zu führen, um entdeckt zu werden. Sobald jemand das Nokia einschaltete, sandte es ein Roamingsignal aus, um sich einem Netzwerk anzuschließen. Also nahm er das Handy als Erstes auseinander und entfernte die Antenne.
Und dann sah er ihn: einen nicht standardisierten GPS-Chip. Jemand hatte dem Handy einen noch verlässlicheren Tracer eingesetzt. Roman musterte den Chip und zerstörte ihn. Er merkte, dass er schwitzte. Stärker als sonst. Irgendetwas ging hier vor, und er fühlte sich beklommen. Sehr beklommen.
Nachdem die Suchfunktion beseitigt war, konnte er die Handydateien auf seinen Computer herunterladen und etliche verborgene oder geschützte Informationen entschlüsseln.
Nach weniger als einer Stunde begann Roman die Frau aus dem Café zu hassen. Denn sie befand sich wirklich in ernster Gefahr, und dadurch, dass sie ihr Handy für ihn zurückgelassen hatte, war die Gefahr auf ihn übertragen worden.
Er starrte die Computerschirme an. Sein Portal in ein anderes Universum. Sein Element. Seine Zuflucht. Aber selbst dort – besonders dort – konnten sie ihn finden.
Und wenn sie Roman fanden, würden sie ihn unzweifelhaft töten.
24.
Das Verhör dauerte den ganzen Morgen und einen Teil des Nachmittags. Van Heiden ließ das Mittagessen aus der Kantine heraufbringen.
Es war eine überaus seltsame Situation. Niemand benutzte das Wort Verdächtiger, doch genau diesen
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