Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Riesenechsen, die sich als Freimaurer verkleidet haben? Oder einfach nur die Erwartung, dass Jesus mit einem Raumschiff landet? Das ist immer sehr zugkräftig.«
»Weißt du, was die Singularität ist?«
»Hör zu, Klugscheißer, nur weil ich dir eine Scheibe Brot geschmiert habe, ist mein Gehirn noch lange nicht zu Brei geworden. Natürlich weiß ich, was die Singularität ist: der voraussichtliche Zeitpunkt, an dem Computer und Maschinen in der Lage sein werden, andere Computer und Maschinen zu bauen, die wir wegen der Beschränktheit unserer menschlichen Intelligenz nicht erschaffen können. Weiß der Himmel, wie viele Science-Fiction-Filme darauf basieren.«
»Das Pharos-Projekt hat eine andere Definition«, sagte Fabel. »Die Leute glauben, dass sich unsere Intelligenz stark erhöhen wird, weil wir ›eins‹ mit der Technologie werden. Wir optimieren uns selbst durch die Gentechnologie und durch den Einbau von neuen Teilen. Durch Nanochips in unserem Gehirn, mikroskopische Maschinen, die unser Inneres abpatrouillieren, Krebszellen zerstören oder Kalkablagerungen aus unseren Arterien entfernen, sodass wir länger leben – solche Dinge.«
»Richtig, diese Definition von Singularität kenne ich auch. Transhumanismus, Posthumanismus … Auslösung der nächsten Phase der menschlichen Evolution durch uns selbst.«
»Genau darauf scheint Dominik Korn abzufahren.«
»Verständlich, wenn man rund um die Uhr mit Schläuchen und Computern verbunden ist. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zu glauben, dass es bald bessere Maschinen geben wird, die sein Leben verlängern.«
»Aber wie ich hier lese, glaubt man beim Pharos-Projekt, dass die Menschheit fähig sein wird, sich von der Umwelt zu lösen, indem sie sich auf eine Art Großrechner ›hochlädt‹.«
Susanne holte eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas ein. »Das Gefasel kenne ich. Den Gedanken, dass wir das menschliche Bewusstsein digitalisieren und es in Computern der nächsten Generation speichern können …«
»Das überzeugt dich nicht?«
»Ich bin Psychologin, Jan, und beschäftige mich jeden Tag mit dem menschlichen Bewusstsein. Jedes menschliche Denken folgt von Natur aus einer gewissen Wahllosigkeit. Die elektrochemischen Signale im Gehirn und die Auslösung von Nervenimpulsen verleihen ihm eine Komplexität, die kein Computer je nachbilden könnte. Wenn ich das Wort ›Baum‹ zu dir sage, dann erzeugt dein Gehirn Vorstellungen, die sich auf den Begriff beziehen. Gut, ein Computer kann das auch, aber wenn ich zehn Sekunden später erneut das Wort ›Baum‹ zu dir sage, wird der Stimulus dieses Wortes, obwohl du ein Grundkonzept von einem Baum hast, tausend neue und völlig andere Vorstellungen als beim ersten Mal in dir hervorrufen. Um einen Computer zu entwickeln, der den menschlichen Intellekt beherbergen kann, müsste man die Organstruktur des Gehirns künstlich nachbilden.« Sie schüttelte abschätzig lachend den Kopf. »Das menschliche Bewusstsein digitalisieren? Das ist dummes Zeug, Jan. Dazu wird es nie kommen.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein? In Zukunft gibt es doch bestimmt …«
»Okay, lassen wir die Computer mal beiseite. Gehirntransplantationen sind seit Frankenstein ein häufiges Thema von Horrorfilmen. Das Gehirn ist der Sitz des Bewusstseins, der Persönlichkeit, stimmt’s?«
»Natürlich.«
»Wenn also eine Gehirntransplantation möglich wäre, würden das Bewusstsein und die Persönlichkeit des Spenders auf den Empfängerkörper übertragen werden, richtig?«
»Ja.«
»Falsch. Wer ein Gehirn verpflanzt, verbindet es mit einem ganz neuen Stoffwechselsystem. Unsere Stimmungen, unsere Persönlichkeitsvarianten werden von unserem Stoffwechsel beeinflusst, der wiederum von Außenfaktoren abhängig ist. Der Grund dafür, dass Männer in der Regel aggressiver sind als Frauen, ist ganz einfach darin begründet, dass Männer Hoden haben und Frauen nicht. Wenn man das Gehirn eines Mannes in den Körper einer Frau verpflanzte, würde das Bewusstsein feminisiert und mit völlig anderen chemischen Substanzen versorgt werden, die zu physischen Veränderungen des Gehirns führen müssten. Wenn jemand also ein menschliches Bewusstsein digitalisieren und in einen Computer einspeisen könnte, hätte man es nicht mehr mit einem menschlichen Bewusstein zu tun. Bestenfalls wäre es ein ichbewusstes Computerprogramm. Glaub mir, Jan, die Vorstellung einer Singularität von Mensch und Maschine
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