Jan Fabel 06 - Tiefenangst
geschehen ist?«
Fabel dachte daran, wie lebensecht seine Träume im Laufe der Jahre geworden waren: Wenn die Toten vorwurfsvoll mit den Fingern auf ihn zeigten, weil er ihre Mörder nicht gefunden hatte; oder wenn er abends im Arbeitszimmer seines Vaters saß und mit Paul Lindemann redete, dem jungen Polizisten, der während eines von Fabel organisierten und geleiteten Einsatzes erschossen worden war.
»Wusstest du, dass es nicht wenige angesehene Wissenschaftler gibt, die all das hier …«, Otto breitete die Arme aus und schwenkte sie, als wolle er die Umgebung umfassen, »… nicht für real halten. Für sie ist alles, was wir erleben, eine sehr raffinierte Simulation.«
»Ich würde lieber sterben, als eine Lüge zu leben«, sagte Fabel.
»Warum? Was macht es denn aus? Dies ist alles, was du je erlebt hast. Es ist deine Realität. Es ist doch wirklich gleichgültig, ob es sich um eine Realität innerhalb oder außerhalb einer Simulation handelt. Vielleicht ist Gott genau das: ein Systemanalytiker. Wäre das kein deprimierender Gedanke?«
»Aber dies ist real, Otto.«
»Realität ist das, was man im Kopf hat, Jan. Du solltest Simulacra und Simulation von Jean Baudrillard lesen. Oder besorg dir ein Exemplar von Fassbinders Welt am Draht . Oder meinetwegen jungianische psychologische Literatur. Frag Susanne … Obwohl ich sie eher für eine Freudianerin halte …« Er setzte eine übertrieben anzügliche Miene auf. »Wir werden durch unsere Umgebung programmiert, durch Zeichen und Symbole. Jemand sagt das Wort ›Cowboy‹, und wir denken an John Wayne, obwohl die wirklichen Cowboys klein waren, fast wie Jockeys, weil ihre Pferde sie zwölf Stunden täglich tragen mussten. Die Wahrheit liegt also keineswegs auf der Hand.«
»Otto, ich kann dir ja die Telefonnummer des Pharos-Projekts geben, wenn du gern …«
»Sehr witzig. Ich bin mit meiner Realität durchaus zufrieden.« Er wurde plötzlich ernst. »Aber ich weiß einiges über das Pharos-Projekt, Jan, und nichts davon ist positiv. Diese Leute schüchtern die Angehörigen von ehemaligen Mitgliedern ein und terrorisieren alle, die sie kritisieren. Du musst denen gegenüber vorsichtig sein.«
Fabel trank seinen Kaffee aus. »Ich verschwinde. Du bereitest mir Kopfschmerzen.«
»Vielleicht ist das mein Lebenssinn. Bis dann, Bulle.«
Fabel fuhr durch die City und parkte gegenüber dem Café im Schanzenviertel. Vor seinem Treffen mit Otto hatte er das Material über den Fall Föttinger durchgesehen und fühlte sich nun bereit, mit Zeugen zu sprechen. Dies war selbstverständlich für ihn, denn er verließ sich nie auf die ihm vorgelegten Zeugenberichte. Nicht etwa, weil er den Beamten, die die Zeugen verhört hatten, nicht zugetraut hätte, die richtigen Fragen zu stellen, sondern weil die menschliche Dimension in den Berichten verschwand. Manchmal kam es nicht darauf an, was ein Zeuge sagte, sondern wie er es tat; mit all den kleinen Einzelheiten, die einen Zweifel, eine Unsicherheit, ein Vorurteil zum Ausdruck bringen konnten.
Fabel hatte ein seltsam optimistisches Gefühl. Vielleicht lag es am Wetter. Zum ersten Mal seit Wochen schien die Abendluft einen Frühjahrshauch zu enthalten. Fabel dachte oft darüber nach, wie sich das Wetter auf seine Stimmungen auswirkte, und dies erinnerte ihn an Müller-Voigts Worte über die geschwächte Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt.
Während er die Straße überquerte, bemerkte er, dass man zwei der vier Spiegelglasfenster des Cafés mit großen Sperrholzplatten zugenagelt hatte; die Rahmen um das Sperrholz waren geschwärzt. Anscheinend hatte die intensive Hitze die Fenster bersten lassen.
Nur drei der mehr als zwanzig Tische waren besetzt. »Sehr ruhig heute Abend …«, sagte er zu dem Kellner und hielt seinen Polizeiausweis hoch. Der Mann, der über einen Tisch gebeugt war, gab sich unbeeindruckt und zuckte die Achseln.
Das Schanzenviertel war ein Stadtteil Hamburgs, in dem die Menschen im Allgemeinen wenig für die Polizei übrig hatten. Nicht, weil es von Kriminellen bevölkert war, sondern weil in einem Viertel, in dem man sich seiner alternativen Einstellung rühmte, eine reflexartige Missachtung gegenüber Gesetzeshütern herrschte. Das störte Fabel nicht. Im Gegenteil, er wusste es zu schätzen, denn schließlich waren es die kleinen Eigenheiten und die gesunde Geringschätzung von Autorität, die den Charakter Hamburgs bestimmten.
»Erstaunlich«, erwiderte der Kellner und konzentrierte
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