Jan Fabel 06 - Tiefenangst
anderen Niveau. Fabel wandte sich häufig an Otto, wenn er auf etwas Verwirrendes oder Unverständliches stieß. Es gab kein Thema, das Ottos Intellekt nicht durchdrang. Andererseits ging ihm im normalen Alltagsleben jeder gesunde Menschenverstand ab. Der Erfolg seines Buchladens war ausschließlich seiner Frau Else zu verdanken.
Fabel wartete, während Otto einen Kunden bediente. Aus der Entfernung sah er plötzlich einen Mann mittleren Alters vor sich, der die Haare verlor und müde Augen hatte. Das betrübte Fabel, der sich das Bild seines Freundes als eines schlaksigen, unbeholfenen Jungen mit langem, glattem, blondem Haar eingeprägt hatte. Er begriff, dass es sich bei seiner Wahrnehmung um den gleichen geistigen Mechanismus handelte, der ihn die Tatsache von Dirk Stellamanns’ Tod vorübergehend hatte vergessen lassen: Man hat die Vorstellung von einem Menschen im Kopf, der nie zu altern scheint, weil man innerlich auf die Zeit der ersten Bekanntschaft fixiert ist.
»Was gibt’s«, fragte Otto, als Fabel an den Tresen trat. »Willst du hier eine Razzia durchführen?«
»Keine Angst«, grinste Fabel. »Es gibt kein Gesetz gegen Klugscheißerei. Noch nicht. Sobald es verabschiedet wird, setze ich dich ganz oben auf die Fahndungsliste. Aber hast du Zeit für einen Kaffee? Ich möchte dich gern ausfragen.«
Otto rief einen seiner Angestellten herbei und führte Fabel in einen mit Sofas vollgestellten Sitzbereich. In der Ecke stand eine Kaffeemaschine, und die beiden alten Freunde setzten sich, von Büchern umgeben, hin, und begannen den üblichen Smalltalk. Dann schilderte Fabel alles, was er über das Pharos-Projekt und dessen Ideen über Konsolidierung, simulierte Realitäten und die Entfernung der Menschheit aus der Biosphäre wusste.
»Ich kapiere das einfach nicht«, sagte er schließlich. »Das Pharos-Projekt soll eine Umweltschutzgruppe sein, aber es ist besessen von der Idee der simulierten Realität. Hinzu kommt die seltsame Theorie, dass die simulierte Realität der Menschheit gestattet, sich aus der Umwelt zu entfernen und diese dadurch zu retten … Auch das kapiere ich nicht. Warum sollte man etwas retten, dem man entkommen will? Außerdem ist mir die Verbindung zwischen den beiden Begriffen nicht klar.«
»Du irrst dich, Jan. Die beiden Ideen sind immer miteinander verknüpft gewesen. Schon am Ende des neunzehnten Jahrhunderts meinten einige führende Geologen – Eduard Suess, Nikolai Fjodorow, Wladimir Wernadski und andere –, dass man beide Gedanken nicht voneinander trennen könne. Ein oder zwei postulierten sogar, dass die Biosphäre nichts als eine Simulation sei.«
»Ja, ja …« Fabel machte ein skeptisches Gesicht. »Diese verrückten Russen …«
»Nein, Jan, du solltest das nicht einfach abtun. Manche der damaligen Vorstellungen gehören heute zum etablierten Denken. Wernadski zum Beispiel glaubte, der menschliche Intellekt sei die wichtigste Kraft für die Gestaltung der irdischen Geologie. Und heute meinen etliche Geologen, wir sollten dieses Zeitalter nicht Holozän, sondern Anthropozän nennen, weil wir den Planeten so sehr verändert haben.«
»Und was ist mit der Vorstellung von der simulierten Realität, auf der das Pharos-Projekt dauernd herumreitet?«
»Weißt du, noch ein wenig früher vertrat Fjodorow, der Wernadski beeinflusste, tatsächlich den Standpunkt, dass die Menschheit in ferner Zukunft eine ›prosthetische‹ Gesellschaft entwickeln würde. Kein Altern oder Tod mehr. Außerdem glaubte er, wir würden eine Art Super-Singularität erzielen – und vergiss nicht, dass er schon in den Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts mit diesen Gedanken spielte –, in der wir absolut jeden Quanten-Gehirnzustand wiederherstellen könnten, was bedeutet, dass alle, die je gelebt haben, wiederkehren. Die Quanten-Auferstehung. Ganz plötzlich wird atheistische Wissenschaft zu religiöser Prophezeiung.«
»Aber das ist ja Wahnsinn«, protestierte Fabel. »Wie sollte man eine ganze Welt simulieren können?«
»Du bist ein alter Technikfeind, Jan. Du wärest von den Socken, wenn du wüsstest, was Spieledesigner heutzutage fertig bringen. Hyperreale simulierte Welten. Und außerdem, ist es nicht die einfachste Sache der Welt, eine simulierte Realität zu schaffen? Wir alle können das … Jedes Mal, wenn wir träumen. Im Traum glauben wir, die Realität zu erleben. Wie oft bist du aufgewacht und konntest kaum unterscheiden, was in Wirklichkeit und was im Traum
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