Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Er pochte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Sie versuchen, sich einzufügen, indem Sie sich nicht einfügen. Aber was weiß ich denn? Ich bin ja nur Kellner.«
»Okay«, erwiderte Fabel. »Sie sind also der große Beobachter, der alles sehende Zuschauer. Ich verstehe. Sie haben den Beamten gegenüber behauptet, dass Sie vor dem Anschlag einen der Brandstifter bemerkt hätten. Ermöglicht Ihnen Ihre Beobachtungsgabe vielleicht auch, mir eine genaue Beschreibung des Brandstifters zu geben?«
»Und ob ich ihn gesehen habe. Er hat auf der anderen Straßenseite herumgelungert, unter dem Baum da …« Der Kellner verzog die Lippen, als er merkte, dass die Sicht auf den Baum durch das Sperrholz verdeckt war. »Wie auch immer, er war da drüben. Zuerst hielt ich ihn für einen Junkie. Er sprang nämlich dauernd von einem Fuß auf den anderen, zappelte herum und guckte immer wieder in die große schwarze Reisetasche, die er bei sich hatte.«
»Würden Sie ihn wiedererkennen?«
»Das bezweifle ich. Er trug eine Art Wollmütze, die er wie eine Maske herunterzog, als er herkam und das Auto ansteckte. Aber ich glaube, mir ist etwas aufgefallen. Ich habe es den anderen Polizisten gegenüber nicht erwähnt, weil es mir erst später bewusst geworden ist …«
»Ja?«
»Ein Hinken. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Knabe gehinkt hat. Oder zumindest hat er sich beim Gehen irgendwie steif bewegt.«
»Vielen Dank«, sagte Fabel.
Der dünne Kellner hob die Schultern und machte sich wieder daran, die Tische zu säubern.
Seinen nächsten Besuch stattete Fabel Harvestehude ab. Ein imposantes wilhelminisches Gebäude mit einer weißen Stuckfassade versuchte, sich hinter einem Schirm aus säuberlich beschnittenen Büschen und Bäumen zu verstecken. Fabel fand den Namen, den er gesucht hatte, und drückte auf den Klingelknopf.
»Fabel, Polizei Hamburg …«, sagte er in die Sprechanlage, nachdem sich eine knisternde Stimme gemeldet hatte. »Ich möchte mit Ihnen reden, Frau Kempfert.«
»Lassen Sie mich Ihren Ausweis sehen. Über dem Mikrofon ist eine Kamera.«
Fabel hielt seinen Ausweis an das gewölbte elektronische Auge, wonach ein schrilles Summen und ein Klicken ertönten. Er stieß die schwere Tür auf und stieg durch ein kunstvoll gekacheltes Treppenhaus in den dritten Stock. Eine attraktive, dunkelhaarige junge Frau musterte ihn misstrauisch an der Schwelle ihrer Wohnung.
»Ich habe den anderen Beamten schon alles gesagt, was ich weiß.«
»Das sagt jeder, Frau Kempfert. Aber ich höre am liebsten alles selbst. Und vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein. Es macht Ihnen doch nichts aus?« Er deutete mit dem Kopf auf die Wohnung hinter ihr.
»Nein …« Ohne zu lächeln, trat sie beiseite. »Kommen Sie rein.«
Die junge Frau führte ihn durch den langen Flur in ein Eckwohnzimmer. Es war riesig und hell, und die Fenstertüren öffneten sich auf einen kleinen Balustraden-Balkon. Fabel vermutete, dass die Wohnung aus diesem Raum, einem oder vielleicht zwei Schlafzimmern, einer Essküche und einem Badezimmer bestand. Die Architektur war typisch für Harvestehude und erinnerte mit ihren hohen Decken, ihren riesigen Fenstern und ihrer Stuckatur an ein förmlicheres und eleganteres Zeitalter. Obwohl nicht übermäßig groß, war die Wohnung gewiss sehr teuer. Die Möbel und Kunstgegenstände mit ihren hellen, bunten Farben kontrastierten zu den weißen Wänden. Alles deutete auf einen erlesenen Geschmack hin.
Victoria Kempfert ließ sich in einen mächtigen roten Sessel fallen und machte eine halbherzige Geste in Richtung des Sofas. Schon kapiert, dachte Fabel, ich stehle dir die Zeit. Er hatte gelernt, Personen für verdächtig zu halten, die sich übertrieben enerviert gaben, wenn sie mit der Polizei sprechen mussten. Im Allgemeinen waren Menschen, wenn jemand das Leben verloren hatte, nur zu gern bereit, ein wenig von ihrer Zeit zu investieren, um zur Aufklärung eines oft sinnlosen Todes beizutragen. So wurde für die meisten das natürliche Gleichgewicht des Universums wiederhergestellt.
»Sind Sie nach dem Mittagessen gewöhnlich hierher zurückgekommen?«, fragte Fabel. »Sie und Herr Föttinger, meine ich.«
»Ja. Wir kamen hierher, um zu ficken.« Sie hielt Fabels Blick mit gewölbten Augenbrauen trotzig stand.
»Aha.« Fabel machte sich mit nüchterner Miene ein paar Notizen. »Und wo haben Sie und Herr Föttinger gefickt? Im Schlafzimmer oder hier, wo ich sitze?«
Victoria Kempfert
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